Rapunzel ließ ihr goldenes Haar hinab.
»Mr. Stendahl?«
»Mr. Garrett? Der echte Mr. Garrett?«
»Genau der.« Garrett betrachtete mißtrauisch die modrigen Wände und das ausgelassene Fest. »Ich dachte, ich sehe mir Ihren Fall mal persönlich an. Auf Roboter kann man sich ja nicht verlassen. Besonders nicht auf die Roboter anderer Leute. Ich habe auch vorsichtshalber gleich ein Abbruchkommando bestellt. Sie sind in einer Stunde hier und zerlegen diesen fürchterlichen Laden in seine Einzelteile.«
Stendahl verbeugte sich. »Vielen Dank für Ihre Ankündigung.« Er machte eine Handbewegung. »Bis es soweit ist, können Sie unser Schauspiel noch genießen. Etwas Wein?«
»Nein, vielen Dank. Was geht hier eigentlich vor? Wie tief kann ein Mensch noch sinken?«
»Sehen Sie sich’s doch an, Mr. Garrett.«
»Mord«, sagte Garrett.
»Ein schändlicher Mord«, sagte Stendahl.
Eine Frau schrie. Miß Pope kam angerannt; ihr Gesicht war kreidebleich. »Etwas Entsetzliches ist passiert! Ich habe gesehen, wie Miß Blunt von einem Affen erwürgt und in den Kamin gestopft wurde!«
Sie blickten hinüber und sahen das lange gelbe Haar aus dem Rauchfang hängen. Garrett schrie auf.
»Entsetzlich!« schluchzte Miß Pope und hörte plötzlich auf zu weinen. Sie blinzelte und wandte sich verblüfft um. »Miß Blunt!«
»Ja«, sagte Miß Blunt, die hinter ihr stand.
»Aber ich habe doch eben gesehen, wie Sie in den Kamin gestopft wurden!«
»Nein!« lachte Miß Blunt. »Das war nur ein Roboter mit meinen Zügen. Eine gute Nachbildung!«
»Aber. aber.«
»Weinen Sie nicht, mein Schatz. Ich bin heil und gesund. Lassen Sie mal sehen. Da bin ich ja wirklich. Im Kamin. Wie Sie schon sagten. Ist das nicht lustig?«
Und Miß Blunt ging lachend weiter.
»Möchten Sie etwas trinken, Garrett?«
»Ich glaube schon. Das hat mich doch ziemlich erschüttert. Mein Gott, was für ein Haus! Das verdient es wirklich, eingerissen zu werden. Einen Moment dachte ich. «
Garrett leerte sein Glas.
Wieder ertönte ein Schrei. Mr. Steffen wurde von vier weißen Kaninchen eine Treppe hinabgetragen, die wie durch Zauber im Fußboden erschien. In eine Grube wurde Mr. Steffen geschafft, wo er gefesselt auf die rasiermesserscharfe Klinge eines großen Pendels starrte, das jetzt über ihm aufblitzte, immer tiefer ausschlug und seinem mißhandelten Körper immer näher rückte.
»Bin ich das da unten?« fragte Mr. Steffen dicht neben Garrett. Er beugte sich vor. »Seltsam, sich selbst sterben zu sehen.«
Das Pendel vollführte eine letzte Schwingung.
»Wie realistisch«, sagte Mr. Steffen und wandte sich ab.
»Noch einen Drink, Mr. Garrett?«
»Ja, bitte.«
»Es dauert nicht mehr lange. Das Abbruchkommando muß jeden Augenblick eintreffen.«
»Gott sei Dank!«
Und wieder ein Schrei, zum drittenmal.
»Was ist denn jetzt?« fragte Garrett aufgescheucht.
»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Miß Drummond. »Schaut.«
Und eine zweite Miß Drummond, eine laut schreiende Miß Drummond wurde in einen Sarg eingeschlossen und in einer ausgehobenen Grube unter dem Fußboden beerdigt.
»Also, daran erinnere ich mich«, sagte der Beamte der Moralbehörde atemlos. »Das stammt aus den alten verbotenen Büchern. Die Beerdigung bei lebendigem Leibe. Und das andere da auch, die Grube und das Pendel, und der Affe und der Kamin - natürlich, die Morde in der Rue Morgue. Aus einem Buch, das ich verbrannt habe, ja!«
»Noch einen Drink, Garrett. Na, halten Sie schon Ihr Glas still.«
»Mein Gott, Sie haben vielleicht eine Fantasie!«
Sie standen da und sahen zu, wie fünf weitere Menschen starben -einer im Schlund eines Drachens und vier andere in der Schwärze des Burggrabens.
»Würde es Sie interessieren, zu sehen, was wir für Sie vorgesehen haben?« fragte Stendahl.
»Natürlich«, sagte Garrett. »Kommt’s noch darauf an? Wir jagen den Laden sowieso gleich in die Luft. Entsetzlich!«
»Dann kommen Sie mit. Hier entlang.«
Und er führte Garrett durch eine Falltür im Fußboden in die Tiefe, durch zahlreiche Gänge, über Wendeltreppen immer tiefer hinab in die Erde, in die Katakomben.
»Was wollen Sie mir da unten zeigen?« fragte Garrett.
»Ihren Tod.«
»Eines Doppelgängers?«
»Ja. Und noch etwas anderes.«
»Was denn?«
»Den Amontillado«, sagte Stendahl und ging voraus; dabei hielt er eine helle Laterne hoch. Skelette ragten unter Sargdeckeln hervor, reglos. Garrett hielt sich mit angeekelt verzogenem Gesicht die Nase zu.
»Den was?«
»Haben Sie noch nie vom Amontillado gehört?«
»Nein.«
»Erkennen Sie das denn nicht?« Stendahl deutete auf eine Zelle.
»Sollte ich das?«
»Oder das hier?«
Stendahl holte lächelnd eine Maurerkelle unter seinem Umhang hervor.
»Was ist das für ein Ding?«
»Kommen Sie«, sagte Stendahl.
Sie betraten die Zelle. Im Dunkel legte Stendahl dem Halbbetrunkenen Ketten an.
»Um Gottes willen, was machen Sie?« rief Garrett und rasselte mit seinen Fesseln.
»Ich übe mich in Ironie. Sie dürfen einen Mann nicht unterbrechen, wenn er gerade ironisch ist, das wäre nicht höflich. Fertig!«
»Sie haben mich in Ketten gelegt!«
»Na und?«
»Was haben Sie vor?«
»Ich lasse Sie allein.«
»Sie machen Witze.«
»Ein guter Witz, ja.«
»Wo ist mein Doppelgänger? Sehen wir nicht, wie er umgebracht wird?«
»Es gibt keinen Doppelgänger.«
»Aber die anderen?« »Die anderen sind tot. Die da umgebracht wurden, das waren die echten Leute. Die Doppelgänger, die Roboter, standen oben bei uns und sahen zu.«
Garrett schwieg.
»Jetzt müßten Sie sagen: >Um Gottes willen, Montresor!<«, sagte Stendahl. »Und ich antworte dann: >Ja, um Gottes willen.< Sagen Sie mir das? Los, sagen Sie’s schon!«
»Sie Narr.«
»Muß ich Sie noch überreden? Sagen Sie’s. Sagen Sie: >Um Gottes willen, Montresor!<«
»Ich tu’s nicht, Sie Idiot. Lassen Sie mich raus!« Er war ernüchtert.
»Hier. Setzen Sie das auf.« Stendahl warf einen Gegenstand in die Zelle, der beim Auftreffen schepperte.
»Was ist das?«
»Eine Narrenkappe. Setzen Sie sie auf, und ich lasse Sie vielleicht frei.«
»Stendahl!«
»Aufsetzen, hab ich gesagt!«
Garrett gehorchte. Die Glöckchen bimmelten.
»Haben Sie nicht das Gefühl, daß das alles schon einmal passiert ist?« fragte Stendahl und macht sich mit Kelle und Mörtel und Mauersteinen ans Werk.
»Was tun Sie da?«
»Ich mauere Sie ein. Da hätten wir schon die erste Reihe. Und jetzt die zweite.«
»Sie sind ja verrückt!«
»Da widerspreche ich nicht.«
»Man wird Sie belangen!«
Er klopfte gegen einen Stein und setzte ihn summend auf den nassen Mörtel.
Jetzt ertönte Trampeln und Klopfen und Schreien aus der dunkler werdenden Zelle. Die Reihen der Steine stiegen höher. »Mehr Rasseln bitte«, sagte Stendahl. »Wir wollen die Sache doch möglichst echt machen.«
»Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus!«
Eine letzte Lücke klaffte offen. Das Schreien hörte nicht auf.
»Garrett?« rief Stendahl leise. Garrett wurde still. »Garrett«, sagte Stendahl. »Wissen Sie, warum ich Ihnen das antue? Weil Sie Mr. Poes Bücher verbrannt haben, ohne sie wirklich gelesen zu haben. Sie haben sich mit dem Hinweis anderer Leute begnügt, daß sie verbrannt werden müßten. Denn wenn Sie sie gelesen hätten, wäre Ihnen beim Betreten der Zelle sofort klar gewesen, was ich mit Ihnen vorhatte. Unkenntnis ist verhängnisvoll, Mr. Garrett.«