»Bist du’s wirklich, träumen wir auch nicht?«
»Du möchtest doch, daß ich bei euch bin, nicht wahr?« Der Junge schien beunruhigt.
»Ja, ja doch, Tom!«
»Warum dann Fragen stellen? Nehmt mich, wie ich bin!«
»Aber deine Mutter - der Schock. «
»Mach dir um sie keine Sorgen. In der Nacht habe ich ein wenig für euch gesungen, und ihr werdet euch deswegen leichter an mich gewöhnen - besonders sie. Ich kenne diesen Schock. Wart nur, bis sie kommt, du wirst sehen.« Er lachte und schüttelte seinen Lockenkopf. Seine Augen waren sehr blau und klar.
»Guten Morgen, Lafe, guten Morgen, Tom.« Mutter kam aus dem Schlafzimmer und drehte ihr Haar zu einem Knoten zusammen. »Ist das Wetter nicht herrlich?«
Tom wandte sich um und lachte seinem Vater ins Gesicht. »Siehst du?«
Im Schatten des Hauses aßen sie gut zu Mittag, alle drei. Mrs. LaFarge hatte eine alte Flasche Sonnenblumenwein gefunden, den sie für eine festliche Gelegenheit aufgehoben hatte, und sie alle tranken davon. Mr. LaFarge hatte seine Frau noch nie so fröhlich erlebt. Wenn sie innerlich Zweifel hegte, so behielt sie sie für sich. Sie empfand die Situation als völlig normal. Und auch LaFarge begann sich daran zu gewöhnen.
Während Mutter das Geschirr abwusch, beugte sich LaFarge zu seinem Sohn und lachte leise: »Wie alt bist du jetzt?«
»Weißt du das nicht, Vater? Vierzehn natürlich.«
»Wer bist du denn wirklich? Du kannst nicht Tom sein, aber irgend jemand muß doch in dir stecken. Wer?«
»Frag nicht!« Erschreckt schlug der Junge die Hände vors Gesicht.
»Du kannst es mir ruhig verraten«, sagte der alte Mann. »Ich verstehe dich schon. Du bist ein Marsianer, nicht? Ich habe viel über die Marsianer gehört, nichts Bestimmtes. Daß es nicht mehr sehr viele gibt und daß sie in der Gestalt von Erdenmenschen kommen, wenn sie sich unter uns mischen. Du hast etwas an dir. einerseits bist du Tom, andererseits wieder nicht.«
»Warum kannst du mich nicht einfach nehmen, wie ich bin, und mit der Fragerei aufhören?« rief der Junge, sein Gesicht völlig hinter den Händen verborgen. »Du darfst nicht an mir zweifeln, Bitte!« er wandte sich um und rannte davon.
»Tom, komm zurück!«
Aber der Junge lief am Kanal entlang auf die ferne Stadt zu.
»Wohin will er denn?« fragte Anna, die gerade abräumen wollte. Sie sah ihren Mann prüfend an. »Hast du etwas Schlimmes zu ihm gesagt?« »Anna«, sagte er und nahm ihre Hand. »Anna, erinnerst du dich noch an den Grünen Park, an einen großen Markt, an Toms Lungenentzündung?«
»Was meinst du!« Sie lachte.
»Schon gut«, sagte er leise.
In der Ferne setzte sich der Staub, wo Tom am Kanalufer entlanggelaufen war.
Um fünf Uhr bei Sonnenuntergang kam Tom zurück. Er sah seinen Vater unsicher an. »Willst du mir Fragen stellen?« wollte er wissen.
»Keine Fragen«, sagte LaFarge.
Der Junge lächelte, und seine Zähne blitzten. »Prima.«
»Wo bist du gewesen?«
»In der Nähe der Stadt. Ich wäre fast nicht zurückgekommen, wäre fast« - der Junge suchte nach einem passenden Wort - »gefangen worden.«
»Was meinst du mit - >gefangen<?«
»Ich kam an einer kleinen Blechhütte am Kanal vorbei, und es kam fast dazu, daß ich nie hätte zurückkehren können. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, es geht einfach nicht; ich kann’s nicht beschreiben, denn ich weiß es selbst nicht. Komisch, ich will auch nicht darüber sprechen.«
»Also, lassen wir das Thema. Komm, wasch dich. Gleich gibt’s Abendbrot.«
Der Junge lief davon.
Etwa zehn Minuten später glitt ein Boot durch das ruhige Kanalwasser; ein großer, hagerer Mann stemmte mit gemessenen Bewegungen eine Stange in den Kanalgrund und trieb das Boot voran. »Guten Abend, Bruder LaFarge«, sagte er und unterbrach seine Tätigkeit.
»Abend, Saul, was gibt’s Neues?«
»Alles mögliche. Kennst du den Burschen, der unten am Kanal in einer Blechhütte wohnt? Nomland heißt er, glaube ich.«
LaFarge erstarrte. »Ja?«
»Weißt du, was für ein Schurke das gewesen ist?«
»Angeblich hat er die Erde verlassen, weil er jemanden umgebracht hat.«
Saul stützte sich auf seinen nassen Stab und starrte zu LaFarge herüber. »Und erinnerst du dich an den Namen seines Opfers?« »Hieß der Mann nicht Gillings oder so ähnlich?«
»Stimmt. Gillings. Also vor etwa zwei Stunden kam Mr. Nomland in die Stadt gerannt und wimmerte, er hätte Gillings gesehen, munter und lebendig, hier auf dem Mars, heute nachmittag! Er wollte unbedingt ins Gefängnis gesperrt werden, aber darauf ließ sich niemand ein. Also ging Nomland nach Hause, und wie ich höre, hat er sich vor zwanzig Minuten in den Mund geschossen. Ich komme gerade von drüben.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Es passieren schon schlimme Sachen«, sagte Saul. »Na ja, gute Nacht, LaFarge.«
»Gute Nacht.«
Saul stieß die Stange in den Grund, und das Boot glitt auf dem stillen Kanal davon.
»Das Essen ist fertig«, rief die alte Frau.
Mr. LaFarge setzte sich zu Tisch, ergriff das Messer und sah Tom prüfend an. »Tom«, sagte er, »was hast du heute nachmittag gemacht?«
»Nichts«, sagte Tom mit vollem Mund. »Wieso?«
»Ich wollt’s nur wissen«, sagte der alte Mann und stopfte sich seine Serviette in den Kragen.
Um sieben Uhr wollte die alte Frau in die Stadt. »Bin seit Monaten nicht mehr dort gewesen«, sagte sie. Aber Tom wollte nicht.
»Ich habe Angst vor der Stadt«, sagte er. »Die Leute. Ich möchte nicht mit.«
»So redet doch kein großer Junge«, sagte Anna. »Nein, das gibt’s bei mir nicht. Du kommst mit, ich bestehe darauf.«
»Anna, wenn der Junge nicht will.«, begann der alte Mann.
Aber es gab keine Diskussionen. Sie trieb die beiden Männer in das Boot, und sie fuhren im Schein der abendlichen Sterne auf dem Kanal. Tom hatte sich zurückgelegt und die Augen geschlossen; es war nicht zu erkennen, ob er schlief. Der alte Mann sah ihn unverwandt an und ließ seine Gedanken wandern. Wer ist das, fragte er sich, wer ist dieses Wesen, das Liebe ebenso sehr braucht wie wir, das aus Einsamkeit zu uns kommt, zu den Fremden, die Stimme und das Gesicht einer Erinnerung übernimmt und mit uns lebt - endlich zufrieden und anerkannt? Von welchem Berg, aus welcher Höhle kommt es, welcher kleinen verlorenen Rasse gehört es an, die auf dieser Welt schon existierte, als Raketen von der Erde eintrafen? Der alte Mann schüttelte den Kopf. Antworten gab es nicht auf seine Fragen. Das kleine Wesen hatte eben Tom zu sein und niemand anderer.
Der alte Mann schaute zur Stadt hinüber, und der Anblick gefiel ihm nicht. Doch schon kehrten seine Gedanken zu Tom und Anna zurück, und er überlegte: Vielleicht ist es nicht richtig, Tom überhaupt bei uns zu behalten - und sei es nur für kurze Zeit. Was kann denn schon dabei herauskommen außer Kummer und Probleme? Wie sollten wir andererseits gerade dem entsagen, was wir uns immer sehnlichst wünschten - auch wenn es nur einen Tag bleibt und dann wieder verschwunden ist, wenn es die Leere noch schrecklicher erscheinen läßt, die dunklen Nächte noch dunkler, die regnerischen Nächte noch nasser? Eher könnte man uns das Essen von der Gabel stehlen, als uns dieses Wesen wieder zu nehmen.
Und er blickte auf den Jungen hinab, der friedlich im Boot schlummerte. Der Junge wimmerte im Traum. »Die Leute«, murmelte er im Schlaf. »Ändern und verändern. Falle.«
»Ruhig, ruhig, Junge.« LaFarge strich dem Jungen über die weichen Locken, und Tom wurde still.
LaFarge half seiner Frau und seinem Sohn aus dem Boot.
»Da wären wir!« Anna lächelte zu den Lichtern hinüber, hörte die Musik aus den Gaststätten, die Pianos, die Fonografen, beobachtete die herüberschauenden Leute, die untergehakt auf den belebten Straßen promenierten.