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Manchmal weiß ich nicht, warum ich etwas tue. Selbst nach so langer Zeit ist es immer noch neu für mich, das nicht zu wissen, nicht mehr von einem Moment auf den anderen den nächsten Befehl befolgen zu müssen. Deshalb kann ich nicht erklären, warum ich stehen blieb und mit dem Fuß die nackte Schulter anhob, um das Gesicht dieser Person zu betrachten.

Obwohl sie halb erfroren, verletzt und blutig war, erkannte ich sie. Ihr Name war Seivarden Vendaai, und sie war vor langer Zeit als junge Leutnantin eine meiner Offizierinnen gewesen, bis sie später befördert wurde, das Kommando über ein eigenes Schiff erhielt. Ich hatte gedacht, sie wäre schon vor tausend Jahren gestorben, aber nun lag sie unbestreitbar hier. Ich ging in die Hocke, tastete nach ihrem Puls, suchte nach Anzeichen, ob sie atmete.

Sie lebte noch.

Mit Seivarden Vendaai hatte ich nichts mehr zu tun, ich war nicht für sie verantwortlich. Und sie war auch nie eine meiner bevorzugten Offizierinnen gewesen. Natürlich hatte ich ihre Befehle befolgt, und sie hatte ihre Hilfseinheiten niemals schlecht behandelt, meinen Segmenten niemals Schaden zugefügt (wie es Offizierinnen gelegentlich taten). Ich hatte keinen Grund, schlecht über sie zu denken. Im Gegenteil, sie hatte die Manieren einer gut erzogenen, gebildeten Person aus guter Familie. Mir gegenüber natürlich nicht — denn ich war ja keine Person, ich war ein Teil der Ausrüstung, ein Bestandteil des Raumschiffs. Aber sie war mir nie besonders sympathisch gewesen.

Ich stand auf und ging in das Gasthaus. Drinnen war es dunkel, das Weiß der Wände aus Eis war schon seit Langem mit Ruß und Schlimmerem bedeckt. Die Luft roch nach Alkohol und Erbrochenem. Die Wirtin stand hinter einer hohen Theke. Sie war eine Eingeborene — klein und feist, blass und mit großen Augen. Drei Stammgäste flegelten sich auf den Stühlen um einen dreckigen Tisch. Trotz der Kälte trugen sie nur Hosen und wattierte Hemden — auf dieser Hemisphäre von Nilt war es Frühling, und sie genossen die kurze warme Phase. Sie taten so, als würden sie mich nicht sehen, obwohl sie mich sicher auf der Straße bemerkt hatten und wussten, warum ich hereingekommen war. Wahrscheinlich war die eine oder andere sogar involviert, denn Seivarden hatte noch nicht lange da draußen gelegen, weil sie sonst längst tot gewesen wäre.

»Ich möchte einen Schlitten mieten«, sagte ich, »und ein Hypothermie-Kit kaufen.«

Hinter mir schmunzelte eine der Stammkundinnen und sagte spöttisch: »Was bist du doch für ein tapferes kleines Mädchen!«

Ich wandte mich ihr zu, um ihr Gesicht zu mustern. Sie war größer als die meisten Nilter, aber genauso dick und blass wie alle. Sie hatte mehr Muskelmasse als ich, obwohl ich größer und erheblich stärker war, als ich wirkte. Ihr war nicht bewusst, mit wem sie sich anlegte. Nach dem eckigen Labyrinth-Muster zu urteilen, in dem ihr Hemd abgesteppt war, war sie vermutlich männlich. Ganz sicher war ich mir nicht. Innerhalb des Radch-Territoriums wäre es egal gewesen. Die Radchaai scherten sich wenig um das Geschlecht, und in ihrer Sprache — meiner Muttersprache — wird das Geschlecht in keiner Weise markiert. In der Sprache, in der wir jetzt redeten, hingegen schon, und ich konnte mich in Schwierigkeiten bringen, wenn ich die falschen Formen benutzte. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass die Hinweise zur Unterscheidung der Geschlechter von Ort zu Ort manchmal radikal verschieden und mir meistens unverständlich waren.

Ich beschloss, nichts zu sagen. Ein paar Sekunden später interessierte sie sich plötzlich mehr für etwas in der Tischplatte. Ich hätte sie ohne allzu viel Mühe umbringen können. Ich fand den Gedanken verlockend. Aber im Moment war Seivarden meine höchste Priorität. Ich wandte mich wieder der Wirtin zu.

Sie stand lässig da und sagte, als hätte es keine Unterbrechung gegeben: »Was glauben Sie, wo wir hier sind?«

»An einem Ort«, sagte ich, immer noch auf linguistisch ungefährlichem Terrain, wo keine Geschlechtsformen notwendig waren, »wo man mir einen Schlitten vermieten und ein Hypothermie-Kit verkaufen wird. Wie viel kostet das?«

»Zweihundert Shen.« Das war bestimmt doppelt so viel wie der übliche Preis. »Für den Schlitten. Hinter dem Haus. Den müssen Sie sich selber holen. Noch ein Hunderter für das Kit.«

»Vollständig«, sagte ich. »Unbenutzt.«

Sie zog eins unter der Theke hervor, und das Siegel sah unbeschädigt aus. »Ihr Kumpel hat seine Rechnung noch nicht bezahlt.«

Vielleicht war das gelogen. Vielleicht auch nicht. Wie auch immer, der Preis konnte nur frei erfunden sein. »Wie viel?«

»Dreihundertfünfzig.«

Ich konnte versuchen, mich weiterhin nicht auf das Geschlecht der Wirtin zu beziehen. Oder ich könnte es erraten. Die Chancen standen schlimmstenfalls fünfzig zu fünfzig. »Sie sind sehr gutgläubig«, sagte ich und entschied mich für die männliche Form, »wenn Sie einen Mittellosen« — ich wusste, dass Seivarden männlich war, also war das einfach — »so hohe Schulden machen lassen.« Die Wirtin sagte nichts. »Sechshundertfünfzig für alles zusammen?«

»Ja«, sagte die Wirtin. »So ziemlich.«

»Nein, alles. Wir einigen uns jetzt. Und wer danach noch mehr von mir verlangt oder versuchen sollte, mich auszurauben, wird sterben.«

Stille. Dann hinter mir das Geräusch von einer Person, die ausspuckte. »Radchaai-Abschaum.«

»Ich bin keine Radchaai.« Was stimmte. Nur Menschen konnten Radchaai sein.

»Der schon«, sagte die Wirtin mit einem leichten Schulterzucken zur Tür. »Sie haben zwar nicht den Akzent, aber Sie stinken wie ein Radchaai.«

»Das ist der Fusel, den Sie Ihren Gästen servieren.« Gejohle von den Stammgästen hinter mir. Ich griff in eine Tasche, zog eine Handvoll Scheine heraus und warf sie auf die Theke. »Behalten Sie den Rest.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Ihr Geld ist hoffentlich echt.«

»Ihr Schlitten ist hoffentlich dort, wo Sie gesagt haben.« Dann ging ich.

Zuerst das Hypothermie-Kit. Ich drehte Seivarden um. Dann riss ich die Versiegelung des Kits auf, brach eine Tablette von der Karte ab und schob sie ihr in den blutigen, halb erfrorenen Mund. Sobald die Anzeige auf der Karte grün wurde, wickelte ich die dünne Folie auseinander, prüfte die Ladung, legte sie um sie und schaltete sie ein. Danach ging ich hinter das Gasthaus, um den Schlitten zu holen.

Zum Glück wartete niemand auf mich. Ich wollte jetzt noch keine Leichen hinterlassen, denn ich war nicht hierhergekommen, um Ärger zu machen. Ich zog den Schlitten nach vorn, lud Seivarden auf und überlegte, ob ich meinen Außenmantel ausziehen und sie damit zudecken sollte, aber am Ende entschied ich mich dagegen, da die Hypothermie-Folie eigentlich reichen sollte. Ich startete den Schlitten und fuhr los.

Am Stadtrand mietete ich ein Zimmer, einen von mehreren Zwei-Meter-Würfeln aus schmutzigen graugrünen Plastikfertigteilen. Ohne Bettwäsche, denn Decken kosteten ebenso wie die Heizung extra. Ich bezahlte — ich hatte ohnehin schon eine idiotische Summe darauf verschwendet, Seivarden aus dem Schnee zu holen.

Ich säuberte sie, so gut es ging, vom Blut, überprüfte ihren Puls (immer noch vorhanden) und ihre Temperatur (steigend). Früher hätte ich ihre Kerntemperatur, Herzfrequenz, den Blutsauerstoff und die Hormonwerte gewusst. Allein durch die Kraft meines Willens hätte ich mir jede einzelne Verletzung ansehen können. Jetzt war ich blind. Offensichtlich war sie geschlagen worden — das Gesicht war geschwollen, der Oberkörper voller Prellungen.

Das Hypothermie-Kit war mit einem sehr simplen Korrektiv ausgestattet, aber nur mit einem einzigen, das lediglich zur Ersten Hilfe zu gebrauchen war. Seivarden mochte innere Verletzungen oder ein schweres Schädeltrauma haben, aber ich konnte nur Schnittwunden und Verstauchungen versorgen. Wenn ich Glück hatte, waren die Unterkühlung und die Prellungen das Einzige, worum ich mich kümmern musste. Aber ich kannte mich in der Medizin nicht mehr so aus wie früher. Zu mehr als einer sehr rudimentären Diagnose war ich nicht in der Lage.