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Da ich noch über Hilfseinheiten verfügte, konnte ich an mehr als einem Ort gleichzeitig sein. Ich war auch in der Stadt Ors auf dem Planeten Shis’urna unter dem Kommando von Esk-Dekaden-Leutnantin Awn im Einsatz.

Ors lag zur einen Hälfte auf wasserdurchzogenem Gelände, zur anderen in einem sumpfigen See, wobei die Seeseite auf Steinplatten über Fundamenten errichtet worden war, die man tief in den Sumpf getrieben hatte. Grüner Schleim bildete sich in den Kanälen und an den Stellen zwischen den Platten, am unteren Teil von Säulen und an allen festen Objekten, die je nach Jahreszeit höher oder tiefer im Wasser standen. Nur selten verzog sich der allgegenwärtige Gestank nach Schwefelwasserstoff, wenn Sommerstürme die seewärts gelegene Stadthälfte erzittern ließen und die Gehwege knietief unter Wasser setzten, das von jenseits der Barriereinseln hereingeflutet kam. Selten. Gewöhnlich verstärkten die Stürme den Gestank noch. Sie kühlten die Luft vorübergehend ab, aber die Linderung hielt jeweils nur ein paar Tage an. Sonst war es ständig feucht und heiß.

Ich konnte Ors aus dem Orbit nicht sehen. Es war eher ein Dorf als eine Stadt, obwohl es früher an einer Flussmündung gelegen hatte und die Hauptstadt eines Landes gewesen war, das sich die Küste entlangzog. Der Handel blühte dank der Flusswege und der Flachboote, die das an der Küste gelegene Sumpfland ansteuerten und die Leute von einem Ort zum nächsten beförderten. Der Fluss hatte sich über die Jahrhunderte verlagert, und nun bestand Ors zur Hälfte aus Ruinen. Wo sich früher kilometerweit rechteckige Inseln in einem Netz aus Kanälen ausgebreitet hatten, lag jetzt ein viel kleinerer Ort, der von zerbrochenen, halb versunkenen Platten umgeben und durchsetzt war, worauf manchmal Pfeiler und Dächer standen, die in der trockenen Jahreszeit aus dem grünen Schlammwasser ragten. Hier waren früher Millionen zu Hause gewesen. Als Radchaai-Truppen vor fünf Jahren Shis’urna annektierten, lebten hier nur noch 6.318 Personen, und natürlich hatte sich die Zahl durch die Annexion weiter verringert. In Ors weniger als in einigen anderen Orten: Sobald wir eingetroffen waren — ich in Gestalt meiner Esk-Kohorten mit ihren Dekaden-Leutnantinnen, die bewaffnet und gerüstet in den Straßen der Stadt aufmarschiert waren —, hatte sich die Oberpriesterin der Ikkt an die ranghöchste anwesende Offizierin gewandt — Leutnantin Awn, wie schon erwähnt — und die sofortige Kapitulation angeboten. Die Oberpriesterin hatte ihren Anhängerinnen gesagt, wie sie sich zu verhalten hätten, um die Annexion zu überleben, und die meisten Anhängerinnen überlebten tatsächlich. Das war nicht so selbstverständlich, wie man glauben möchte. Wir hatten von Anfang an klargemacht, dass schon die kleinste Störung während der Annexion den Tod bedeuten könnte, und als die Annexion dann begonnen hatte, wurden überall Exempel statuiert, die deutlich machten, was wir damit meinten, denn es gab immer irgendwelche Leute, die der Versuchung nicht widerstehen konnten, uns auf die Probe zu stellen.

Doch der Einfluss der Oberpriesterin war beeindruckend. Die geringe Größe der Stadt war durchaus trügerisch, denn in der Pilgerzeit strömten Hunderttausende von Besucherinnen über den Vorplatz des Tempels, kampierten auf den Platten verwaister Straßen. Für die Anhängerinnen der Ikkt war es der zweitheiligste Ort auf dem Planeten, und die Oberpriesterin wurde wie eine Gottheit verehrt.

Eine Zivilpolizei war gewöhnlich erst etabliert, wenn eine Annexion offiziell vollzogen war, was oft fünfzig oder mehr Jahre dauerte. Diese Annexion verlief anders — den überlebenden Shis’urnai war die Staatsbürgerschaft viel früher als sonst gewährt worden. Bislang konnte sich niemand aus der Systemverwaltung mit der Vorstellung anfreunden, Personen aus der Zivilbevölkerung im Sicherheitsdienst einzusetzen, und so war die Militärpräsenz immer noch recht stark. Als die Annexion von Shis’urna dann offiziell vollzogen war, kehrten die meisten Esk-Dekaden der Gerechtigkeit der Torren in das Schiff zurück, doch Leutnantin Awn blieb, und ich blieb in Form von zwanzig Hilfseinheiten bei ihr, als Eins Esk der Gerechtigkeit der Torren.

Die Oberpriesterin wohnte in einem Haus in der Nähe des Tempels, in einem der wenigen unbeschädigten Gebäude aus der Zeit, als Ors noch eine Stadt gewesen war — mit vier Stockwerken und einem abgeschrägten einfachen Dach. Das Gebäude war nach allen Seiten offen, doch es konnten Trennwände hochgezogen werden, wenn eine Bewohnerin Privatsphäre wünschte, und an den Außenwänden konnten bei Stürmen Rollläden heruntergelassen werden. Die Oberpriesterin empfing Leutnantin Awn in einem fünf Quadratmeter großen abgeteilten Raum, in den das Licht über die dunklen Wände hereinschien.

»Finden Sie«, fragte die Priesterin, eine grauhaarige Alte mit kurz gestutztem grauem Bart, »es nicht sehr hart, in Ors zu dienen?« Sie und Leutnantin Awn hatten sich auf Kissen niedergelassen — die wie alles in Ors feucht waren und schimmelig rochen. Die Priesterin trug um die Taille gewickelte gelbe Stoffbahnen, die Schultern wurden von geschwungenen und eckigen Zeichnungen verziert, die sich je nach der liturgischen Bedeutung des Tages veränderten. Aus Rücksichtnahme auf die Gepflogenheiten der Radchaai trug sie Handschuhe.

»Natürlich nicht«, sagte Leutnantin Awn freundlich — auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie ich fand. Sie hatte dunkelbraune Augen und kurzes dunkles Haar. Ihre Haut war dunkel genug, um nicht als blass zu gelten, aber nicht so dunkel, wie es gerade in Mode war — sie hätte es verändern können, die Augen und Haare ebenfalls, was sie aber nie tat. Statt ihrer Uniform — ein langer brauner Mantel mit juwelenbesetzten Nadeln, darunter Hemd und Hose, sowie Stiefel und Handschuhe — trug sie einen ähnlichen Rock wie die Oberpriesterin, dazu ein dünnes Hemd und sehr leichte Handschuhe. Trotzdem schwitzte sie. Ich stand still und aufrecht am Eingang, während eine Juniorpriesterin Becher und Tassen zwischen Leutnantin Awn und der Göttlichen abstellte.

Gleichzeitig stand ich etwa vierzig Meter entfernt im eigentlichen Tempel — einem untypisch geschlossenen Raum von 43,5 Metern Höhe, 65,7 Metern Länge und 29,9 Metern Breite. An dem einen Ende befanden sich Türen, die fast bis unters Dach reichten, und am anderen ragte eine mit akribischer Genauigkeit gestaltete Reproduktion einer Felswand auf, die woanders auf Shis’urna tatsächlich existierte. Darunter stand ein Podest, von dem eine breite Treppe aus grauen und grünen Steinen zum Boden hinunterführte. Das Licht strömte durch Dutzende von grünen Dachluken herein, fiel auf Wände, die mit Szenen aus dem Leben der Heiligen des Ikkt-Kults bemalt waren. Das Gebäude war anders als alle anderen in Ors. Die Architektur wie auch der Kult der Ikkt waren von anderswo auf Shis’urna importiert worden. Während der Pilgerzeit war dieser Ort übervoll mit Gläubigen. Es gab noch andere Heiligtümer, aber mit »Pilgerfahrt« meinten die Orsai stets die alljährliche Pilgerfahrt an diesen Ort. Doch bis dahin waren es noch ein paar Wochen. Im Moment raunte es leise aus einer Ecke, wo ein Dutzend Gläubige ihre Gebete flüsterten.

Die Oberpriesterin lachte. »Sie sind eine Diplomatin, Leutnantin Awn.«

»Ich bin eine Soldatin, Göttliche«, antwortete Leutnantin Awn. Sie unterhielten sich auf Radchaai, und sie sprach langsam und deutlich und achtete auf ihren Akzent. »Ich empfinde meinen Dienst nicht als hart.«

Die Oberpriesterin quittierte es nicht mit einem Lächeln. In der kurzen Stille, die folgte, stellte die Juniorpriesterin eine Kanne von dem ab, was die Shis’urnai Tee nennen, eine lauwarme süßliche Brühe, die kaum Ähnlichkeit mit dem Original hatte.

Vor den Toren zum Tempel stand ich außerdem auf dem in türkisfarbenes Licht getauchten Platz und beobachtete die Passantinnen. Die meisten trugen den gleichen einfachen Umhang in leuchtenden Farben wie die Oberpriesterin, doch nur sehr kleine Kinder und die sehr Frommen hatten Zeichnungen, und noch weniger trugen Handschuhe. Einige Passantinnen waren Transplantierte, also Radchaai, denen hier in Ors nach der Annexion Arbeit oder Grundbesitz zugewiesen worden war. Die meisten waren wie Leutnantin Awn in einen einfachen Rock und ein leichtes, loses Hemd gekleidet. Einige hielten hartnäckig an Hose und Jacke fest und schwitzten auf ihrem Weg über den Platz. Alle trugen Schmuck, den nur wenige Radchaai jemals aufgeben würden — Geschenke von Freundinnen oder Geliebten, Andenken an die Toten, Zeichen von Verbindungen zu Verwandten und Klientinnen.