Da Helene keinen der flüchtigen Gedanken erhaschen und festhalten konnte — in die Notenpresse hätten sie beizeiten einsteigen sollen, dachte sie, und: welcher Unsinn, und: wer war noch Cuno? Reichspräsident, Kanzler? Und dann fiel ihr wieder jener wohlklingende Name ein: Thyssen und Frankreich und Kohle, Kohle, Kohle, eine Notenpresse, das wäre es gewesen, legal oder nicht — sagte sie zu Martha, die sich noch den Mantel ausschlug und das Haar unter den Hut steckte: Auf gehts. Hoffentlich gab es ihren Koffer noch.
Gemeinsam eilten die Schwestern den Bahnsteig entlang zum Gepäckwagen. Dort hatte sich eine Schlange gebildet. Immer wieder schauten sich die Mädchen über die Schulter. Zwar hatte die Tante im letzten Brief vorgeschlagen, dass sie einen Kremser oder die Straßenbahn nehmen sollten, um zu ihr in die Achenbachstraße zu kommen. Aber war es nicht möglich, dass sie trotz dieses Ratschlags zum Bahnhof kommen und sie abholen würde?
Glaubst du, Tante Fanny wird uns erkennen?
Ihr wird nichts anderes übrigbleiben. Martha hielt das Gepäckbillet bereit und zählte schon das passende Geld ab, obwohl vor ihnen noch eine dichte Schlange stand.
Bei dir wird es nicht schwer sein. Helene musterte Martha: Du siehst Mutter ähnlich.
Fragt sich nur, ob Tante Fanny das bemerken kann und will. Vielleicht weiß sie gar nicht mehr, wie ihre Cousine ausgesehen hat?
Sie wird keine Fotografie von Mutter haben, Mutter besitzt von der Zeit vor unserer Geburt nur eine einzige, die von ihrer Hochzeit.
Besitzt? Martha lächelte. Ich würde sagen, sie besaß. Zumindest habe ich die Fotografie mitgenommen. Wir brauchen doch eine Erinnerung, nicht?
Eine Erinnerung? Helene sah Martha ratlos an. Sie wollte sagen: Ich nicht, unterließ das aber.
Unterkunft jefällig? Anständjes Hospiz, meene Frolleins? Jemand zupfte und zog hinten an Helenes Mantel. Oder ne billige Bude, privat, bei ner Wirtin? Helene drehte sich um, hinter ihr stand ein junger Mann in abgerissener Kleidung.
Fließend Wasser und elektrische Beleuchtung? Fragte ein zweiter und schubste den ersten beiseite.
Ick kann da wat empfehlen, die Fremdenheime sind lausig und die Hotels kann ja keena mehr bezahlen. Kommen Se mit! Eine ältere Frau packte Helene am Arm.
Lassen Sie los! Vor Angst überschlug sich Helenes Stimme. Danke, danke, wir brauchen nichts, sagte Martha in alle Richtungen.
Wir haben eine Tante in Berlin, ergänzte Helene und schloss jetzt den oberen Knopf ihres Mantels.
Bestimmt mochten sie einander nicht, weil Tante Fanny sich als etwas Besseres fühlte. Das rief Martha hinter vorgehaltener Hand Helene ins Ohr. Und auch was Besseres war!
Meinst du? Das glaube ich nicht. Helene war es oft unangenehm, wenn Martha etwas Schlechtes über die Mutter sagte. So sehr sie die Mutter auch fürchtete und mit ihr gestritten hatte, so sehr erschrak sie und so wenig ertrug sie es, wenn Martha völlig ohne Zusammenhang ihre schlechte Meinung kundtat. Die Benennung des Schlechten bereitete Martha Lust, eine Freude an der Entblößung, die Helene erst zart und nur in wenigen Augenblicken teilte.
Tante Fanny hat Mutter bestohlen, behauptete Helene jetzt. Sie erinnerte sich daran, dass die Mutter es an jenem Abend gesagt hatte, als sie ihr zum ersten Mal von ihrem Briefwechsel mit Tante Fanny erzählten.
Ach ja, glaubst du das? Martha spottete. Was soll sie denn gestohlen haben? Einen getrockneten Fliegenpilz vielleicht? Wenn du mich fragst, hat sie sich das ausgedacht. Vielleicht war es andersrum. Tante Fanny hätte das nicht nötig, niemals.
Sie wird eine feine Dame sein, da bin ich sicher. Helene schaute nach vorn, die Schlange hatte sich gelichtet und die beiden Schwestern waren im Eifer des Gesprächs so abgelenkt gewesen, dass sie nicht gehört hatten, wie der Mann vorne an der großen Tür des Gepäckwagens bereits zum vierten Mal ihre Nummer und nun auch ihren Namen in die Runde rief.
Anträge der demokratischen Parteien abgelehnt! Ein Bursche brüllte aus vollem Hals und winkte wild mit einer Zeitung, der Stapel drohte ihm aus dem Arm zu rutschen. Weiter lebe die Sturmabteilung der nationalsozialistischen Partei!
Olle Kamellen, höhnte ein anderer Zeitungsjunge und schrie nun seinerseits aus vollem Halse: Erdbeben! Auch er winkte wild, und Helene fragte sich, ob er sich die Nachricht gerade ausgedacht hatte, um besseren Absatz zu machen. Immerhin, die Menschen rissen ihm die Zeitungen aus der Hand. Großes Erdbeben in China!
Und jetzt zum letzten Mal! Erste Klasse, Würsich, Numero vierhundertsiebenunddreißig!
Hier, das sind wir, brüllte Helene jetzt so laut sie konnte und stürzte die wenigen Meter nach vorn zu dem Mann, der gerade ihren Schrankkoffer in Ermangelung eines Besitzers auf den großen Gepäckwagen für nicht abgeholte Stücke schieben wollte.
Rote Fahne! Rief ein dünnes Mädchen mit einem kleinen Handwagen voller Zeitungen. Rote Fahne!
Die Vossische!
Der Völkische Beobachter! Helene erkannte den jungen Zeitungsburschen von vorhin. Wie alt mochte er sein? Zehn? Zwölf? Besetzung im Ruhrgebiet dauert an! Keine Kohle für Frankreich! Erdbeben in China! Auch er rief jetzt das Erdbeben aus, obwohl zweifelhaft war, dass sich seine Zeitung schon damit befasste.
Kaufen Sie die Weltbühne, meine Damen und Herren, ganz druckfrisch, die Weltbühne! Ein auffallend großer Herr mit Hut, Brille und Anzug lief in langen Schritten den Bahnsteig entlang. Obwohl er mit einem seltsamen Akzent sprach, hinter dem Helene sofort einen Russen vermutete, fanden seine kleinen, roten Hefte besten Anklang. Kurz nachdem er an Martha und Helene vorübergeschritten war, nahm ihm eine elegante Dame das letzte Heft ab.
Erst als jemand Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts! rief, fasste Helene den mutigen Entschluss, ein Bündel Markscheine aus der Manteltasche zu ziehen. In ihrem Mantel steckte noch die Zitrone. Die Markscheine rochen jetzt nach Zitrone. Schließlich kannte sie den Vorwärts, und es sah hoffentlich fein und gebildet aus, wenn sie mit einer Zeitung unter dem Arm bei der Tante eintrafen.
Sie nahmen eine Droschke mit mehreren Sitzen, vielleicht war es das, was Tante Fanny mit einem Kremser meinte. Die Häuser und Litfaßsäulen warfen schon lange Schatten. Am Schöneberger Ufer kam die Droschke zum Stehen, es sah aus, als wollte sich das Pferd verbeugen, es ging auf die Knie, die Vorderbeine sackten ihm ein, es krachte, Holz knackte, und das Pferd fiel seitlich in das Geschirr. Der Kutscher sprang auf. Er schrie etwas, stieg ab und klopfte dem liegenden Pferd auf den Hals, er ging um die Kutsche herum, nahm den Eimer vom Haken und entfernte sich ohne ein erklärendes Wort. Helene konnte erkennen, dass er zu einer Pumpe ging, wo er warten musste, bis ein anderer seinen Eimer voll hatte und er drankam. Die Laternen entlang der Straße wurden angezündet. Überall leuchtete und funkelte es. So viele Lichter, Helene stand auf und drehte sich rundherum. Ein Automobil mit einem lustigen Schachmuster, das sich wie eine Borte rund um das Gefährt rankte, hielt neben ihnen. Ob sie Hilfe benötigten, wollte der Fahrer aus seinem Fenster heraus wissen. Vielleicht brauchten sie ein Taxi? Aber Martha und Helene schüttelten den Kopf und blickten sich wieder nach ihrem Kutscher um. Der Taxifahrer ließ sich das nicht zweimal sagen. Vorn auf der Kreuzung winkte ein junger Mann nach ihm.