Wir hätten vielleicht umsteigen sollen, Helene blickte sich um. Der Kutscher kam mit dem Eimer Wasser in der Hand zu rück. Er spritzte das Pferd nass, schüttete dann den ganzen Eimer Wasser über das Pferd, aber das Pferd rührte sich nicht. Die Sonne war untergegangen, die Vögel zwitscherten noch, es wurde kühl.
Ham Ses noch weit? Das war das erste, was der Kutscher jetzt zu ihnen sagte.
Martha und Helene zuckten unschlüssig die Schultern.
Ach ja, Achenbach. Det is weit, kann ick nich lofen, Ihr Jepäck is ja och noch da. Der Kutscher sah betrübt aus.
Ein Wachmann schlenderte heran. Der Koffer wurde abge laden, Martha und Helene mussten absteigen. Ihnen wurde eine andere Droschke gewunken. Der Himmel war blau, als sie schließlich vor dem Haus in der Achenbachstraße ankamen. Der Hauseingang des vierstöckigen Hauses war erleuchtet, eine breite fünfstufige Steintreppe führte zu der eleganten Eingangstür aus Holz und Glas. In der Tür wartete ein Diener, der sie willkommen hieß und zur Droschke trat, um ihren Koffer in Empfang zu nehmen. Martha und Helene stiegen die breite Treppe hinauf in die Beletage. War das Marmor, echter, italienischer Marmor?
Da seid ihr endlich, rief eine große Frau. Sie streckte Martha und Helene ihre Hände entgegen, die bis über den Ellenbogen in Handschuhen steckten. Darüber glänzten nackte Schultern. Martha zögerte nicht lang, sie ergriff eine Hand, verneigte sich und küsste sie.
Nicht doch, sind wir bei Königen? Meine Nichten. Tante Fanny drehte sich auf dem Absatz und ihr langer Schal wehte Helene ins Gesicht. Anerkennend nickten einige der umherstehenden Damen und Herren, sie hielten den Schwestern zum Zeichen des Willkommens ihre Gläser entgegen und prosteten sich gegenseitig zu. Die Damen trugen Kleider aus dünnen Stoffen ohne deutliche Taille mit Kordeln und Tüchern um die Hüfte, ihre Röcke gingen nur wenig über das Knie hinaus und an den Füßen hatten sie Schuhe mit Riemchen und Absätzen. Manche von ihnen trugen das Haar so kurz, wie es sich einst Leontine geschnitten hatte, bis zum Ohrläppchen und im Nacken noch kürzer. Bei einer Frau schien das Haar in Wellen eng an den Kopf gepresst worden zu sein, neugierig betrachtete Helene die Frisuren und fragte sich, wie sie hergestellt wurden. Allein die vielen Hälse, wie sie hier aus geraden, markanten Schultern ragten, dort aus zierlich abfallenden, und stets zum Kopf der Mädchen, jungen Frauen und Damen führten, als sei neuerdings ihr Kopf die Krone der Schöpfung und nicht mehr ihre Hüften, an der sich alle längst sattgesehen hatten, verwirrten Helene. Die Herren trugen feine Anzüge und rauchten Pfeife, sie betrachteten die eingetretenen Schwestern mit begehrlichem Wohlwollen. Ein beleibter Herr blickte freundlich in Helenes Gesicht, dann glitt sein Blick an ihr entlang, über den sich öffnenden Mantel, unter dem ein in seinen Augen gewiss ländlich altmodisches Kleid zum Vorschein kam. Mit einem onkelhaft gütigen Nicken drehte er sich um, nahm dem Fräulein mit dem Tablett eins der Gläser ab und vertiefte sich in ein Gespräch mit einer kleinen Frau, deren Federstola bis zur Kniekehle reichte.
Was für hübsche Kinder! Eine Freundin hakte sich bei Tante Fanny ein und schwankte trunken, den Kopf voran wie ein Stier mit roten Locken, Helene entgegen. Ihr gewaltiger Paillettenbusen blinkte, als sie kurz vor Helene in die Höhe schoss.
Warum hast du uns diese zauberhaften Wesen so lange vorenthalten, meine Teure?
Lucinde, meine Nichten.
Ein Herr beugte sich neugierig über Tante Fannys nackte Schulter und schaute von Helene zu Martha und wieder zurück. Offenbar füllten die Gäste die Beletage bis in den letzten Winkel aus. Noch stand die Tür hinter ihnen offen. Helene blickte sich um, sie wollte fliehen. Als Helene etwas an ihrer Wade spürte und an sich herabsah, entdeckte sie einen kohlschwarzen Pudel, der frisch frisiert war. Es war der Anblick des Pudels, der sie ruhiger atmen ließ.
Ein Hausmädchen und ein Diener nahmen den Schwestern die Taschen aus den Händen und halfen ihnen aus den Mänteln, achtlos wurde Helene die Zeitung abgenommen, zwei weitere Diener kamen mit dem Koffer die Treppe herauf. Helene eilte einige Schritte hinter dem Fräulein mit ihrem Mantel her und nahm ihre Zitrone aus der Manteltasche.
Eine Zitrone, wie entzückend! Der rotlockige Stier namens Lucinde kreischte so leise wie nur möglich.
Rasch, macht euch frisch und zieht euch um, das Diner beginnt in einer Stunde. Tante Fanny strahlte. Ihr Gesicht, schmal und ebenmäßig, erinnerte an ein Gemälde, so dunkel waren die Wangen vom Rouge, so grüngold schimmerten ihre Augenlider. Die langen Wimpern hoben und senkten sich wie schwarze Schleier über ihren großen schwarzen Augen. Ein junger Mann ging an ihr vorbei. Mit dem Rücken zu Martha und Helene blieb er an Tante Fannys Seite stehen. Er küsste sie auf die bloße Schulter, dann legte er ihr nur flüchtig die Hand an die Wange und ging weiter zu einer anderen Dame, die offenbar auf ihn wartete. Fanny deutete ein Klatschen in die Hände an, vornehm, elegant, grazil — in Helenes Kopf überschlugen sich Worte für ihre Erscheinung, anmutig, wobei ihre langen Hände sich zwar berührten, aber keinen Laut von sich gaben. Phantas tisch. Meine Perle wird euch alles zeigen. Otta?
Das Hausmädchen Otta, weißhaarig und glatthäutig, bahnte den Weg durch die große Versammlung von Gästen und führte die Schwestern in ein kleines Zimmer am Ende der Wohnung. Es roch nach violetten Blüten. Dort waren zwei schmale Betten gemacht und ein Waschtisch mit einem großen Spiegel, in dessen Ränder Lilien geschliffen waren, stand in einer Nische der Wand. Die Kerzen eines fünfarmigen silbernen Leuchters gaben das Licht eines Altars. Das Hausmädchen zeigte ihnen Hand tücher, Nachtgeschirr und Kleiderschrank. Ein Badezimmer und die Toilette, das Hausmädchen flüsterte die Worte, mit Wasserklosett, befänden sich zudem vorne am Eingang. Dann entschuldigte sich das Hausmädchen, es müsse weitere Gäste empfangen.
Eine Feier? Martha sah erstaunt zur Tür, die sich hinter dem Hausmädchen geschlossen hatte.
Umziehen? Helene warf ihre Zitrone auf das Bett und stemmte ihre Hände in die Hüften. Mein bestes Kleid trage ich schon.
Engelchen, das kann sie doch nicht wissen. Sie wird nicht genau hingeschaut haben.
Hast du ihre Lippen gesehen, wie sie geschminkt ist?
Zinnober. Und ihr Haar, kurz bis zu den Ohrläppchen, das ist die Stadt, Engelchen. Morgen schneide ich dir dein blondes Haar ab, sagte Martha, sie lachte nervös und öffnete den Koffer. Mit beiden Händen wühlte sie und seufzte erleichtert, als sie ihr kleines Täschchen fand. Sie drehte Helene den Rücken zu und schüttete den Inhalt des Täschchens auf dem Waschtisch aus. Helene setzte sich vorsichtig auf das eine der beiden Betten. Sie streichelte den Überwurf, der weich war. Das Wort Kaschmir kam ihr in den Sinn, aber sie hatte keine Ahnung, wie sich Kaschmir anfühlte. Unter Marthas Armen hindurch sah He lene, wie Martha ein kleines Fläschchen öffnete und die Flüssigkeit mit der Spritze aufzog. Ihre Hände zitterten. Sie krempelte den Ärmel ihres Kleides hoch. Geschickt schlang sie sich ihr großes Taschentuch als Binde um den Arm und setzte die Spritze an.