Als Martha einmal lauter rief, Tante, welch wunderbares Fest, und Helene ihren Ohren nicht traute, weil sie Martha noch nie in einer solchen Runde frei rufen und lachen gehört hatte, rief Tante Fanny lachend aus der anderen Ecke des großen Berliner Zimmers zurück: Tante? Liebchen, soll das mein Name sein? Da fühle ich mich gleich hundert Jahre älter. Eine Greisin, ist das nicht die Tante? Fanny, Liebchen, nur Fanny!
Helene bot man keine Pfeife und keine Zigaretten an, es hatte sich wohl bald herumgesprochen, dass sie noch keine sechzehn war und aus der Lausitz kam. Zwei Herren kümmerten sich um das Küken, sie gossen Helene Champagner ein und später Wasser, wobei sie offenbar Freude daran hatten, sich gegenseitig immer wieder daran zu erinnern, dass Helene noch ein Kind war. Was für ein Küken! Reizend sei es, wie sie das Wasser aus dem Glas hinunterstürze. Ob sie immer solchen Durst habe? Die beiden Herren amüsierten sich, während Helene sich vorsah, Martha nicht aus den Augen zu verlieren. Martha lachte in alle Richtungen, sie stülpte anzüglich ihre Lippen, als wolle sie den jungen Herrn, der seine Mütze nicht absetzte, küssen. Doch im nächsten Augenblick schlang sie ihren Arm um eine halbnackte Frau, die ein ähnlich ärmelloses Kleid wie die Tante trug und deren Schreie oh là là weithin über alle Köpfe hinweg spitz an Helenes Ohr drangen, dass es wehtat. Oh là là, rief die Frau immer wieder und legte nun ihrerseits einen Arm um Martha, wobei Helene genau sah, wie ihre Hand nach Marthas Schulter fasste und wenig später an ihrer Taille lag, bis es so schien, als wolle die Frau Martha gar nicht mehr loslassen. War das eine Pfeife, an der Martha da zog? Vielleicht hatte sich Helene getäuscht.
Noch etwas Wasser? Einer der beiden Herren neigte sich vor, um Helene aus der kristallenen Karaffe Wasser einzuschenken.
Am späten Abend brach die Abendgesellschaft auf. Nicht aber, wie Helene zuerst glaubte, um nun nach Hause zu gehen, sondern man wollte gemeinsam in einen Club.
Du hilfst meiner Nichte in den Mantel, befahl Fanny mit samtiger Stimme einem großen blonden Verehrer, ihr Blick wies auf Martha. Zu Helene sagte die Tante freundlich, sie solle sich ganz zu Hause fühlen und süß träumen.
Doch das süße Träumen fiel Helene nicht leicht, an Schlaf war nicht zu denken. Helene, die mit dem Personal allein zurück blieb, hatte sich zwar stracks in ihr Zimmer zurückgezogen, aber sie konnte nicht anders, sie wartete dort bis zur Morgendämmerung. Erst als matt das Morgenlicht durch die steingrünen Vorhänge fiel, hörte sie Geräusche in der Wohnung. Eine Tür fiel ins Schloss. Stimmen, Lachen, Schritte auf dem langen Flur näherten sich. Ihre Zimmertür wurde geöffnet und Martha wurde halb stolpernd, halb torkelnd ins Zimmer geschoben, wo sie unmittelbar auf Helenes Bett fiel. Die Tür schloss sich wieder. Draußen im Flur hörte Helene Fanny mit ihrem französischen Liebhaber und einer Freundin lachen. Vielleicht war es Lucinde. Helene stand auf, sie schob das zweite Bett an ihres und entkleidete Martha, die nur noch ihre Lippen bewegen konnte.
Engelchen, wir sind da. Der Pfand ist ein Kuss. Du musst sie nur aufstoßen, die Himmelspforte, wenn du noch durchpasst. Martha konnte nicht mehr kichern, sie schnaufte und schlief. Ihr Kopf fiel zur Seite.
Helene zog Martha das Nachthemd an, öffnete ihr Haar und legte die große Schwester neben sich. Martha roch nach Wein und Rauch und einem Helene nicht bekannten schweren Duft, blumig und harzig. Helene schlang ihre Arme fest um Martha, sie starrte noch in die Dämmerung, als Martha schon längst leise schnarchte.
Der kommende Winter brachte viel Schnee. Martha und Helene hatten den Koffer weit unter das Bett geschoben und selbst zu Weihnachten war ihnen nicht eingefallen, ihn zu packen und die Mutter in Bautzen zu besuchen. An jedem Monatsanfang kam ein Brief vom Mariechen. Es beschrieb den Gesundheitszustand der Mutter, berichtete vom Wetter und den häuslichen Finanzen. Während Fanny Marthas Gesellschaft genoss, sie in jeden Club und jede Revue führte, genoss Helene die Stille der Beletage. Was für eine umfangreiche Bibliothek besaß Fanny, alles Bücher, die sie selbst offensichtlich nie gelesen hatte, deren Anblick ihr aber schmeichelte. Oft verbrachte Helene ihre Nächte lesend auf der Chaiselongue. Stolperten Fanny und Martha am frühen Morgen zur Tür herein, stets im Hintergrund hielt sich der Mann, den sie im Schlepptau hatten, und fiel ihr Blick auf Helene, brachen sie in Gelächter aus. Rümpfte Fanny die Nase? Vielleicht war es ihr nicht recht, dass Helene ihre Bücher las. Kindchen, spottete Fanny und hob drohend den Zeigefinger, wer schön werden will, muss schlafen. Lag Helene später im Bett und roch den Rauch und das Parfum von Marthas Nacht, streckte sie zögernd die Hand aus. Sie strich ihr über den Rücken und ließ die Hand auf Marthas Hüfte liegen. Mit dem gleichmäßigen Atem der Schwester schlief Helene ein.
Ich liebe euch, beteuerte Fanny eines Vormittags, als sie bei Tee und Ingwerstäbchen am niedrigen Tisch ihrer Veranda saßen, dessen Kacheln blass mit Rosen bemalt waren. Die Veranda war vom Duft der Bergamotte ausgefüllt, Fanny trank ihren Tee mit viel Kandis und ohne Milch. Auf dem Tisch stand wie jeden Morgen ein Teller mit Mohnkuchen, von dem Helene aus Scheu vor dem unaufgeforderten Über-den-Tisch-Langen und dem Zugreifen noch nie gekostet hatte. Gewiss lag Fannys Liebhaber noch im Bett, in der Kemenate, wie Fanny gern sagte. Zumindest einer von ihnen. In letzter Zeit war häufig ein neuer da, der große, blonde Erich. Wie Bernard war auch er einige unbedeutende Jahre jünger als Fanny. Noch schien sich Tante Fanny zwischen beiden nicht entschieden zu haben, aber es kam selten vor, dass sie gleichzeitig zu Gast waren. Wie Bernard schlief auch Erich meist bis zum Mittag, doch während sich Bernard den Rest des Tages mit Wettgeschäften rund um die Pferderennen und als Zuschauer auf der Trabrennbahn seine Zeit vertrieb, lockte es den großen blonden Erich auf die Tennisplätze am Grunewald und jetzt im Winter in die Hallen. Einmal hatte er Helene gefragt, ob sie ihn begleiten wolle. Dafür hatte er einen Augenblick abgepasst, in dem Fanny nicht zugegen war, und er hatte dabei Helene so plötzlich und ungestüm seine Hand in den Nacken gelegt, dass Helene seither Begegnungen mit Erich fürchtete. Zwar beachtete er sie in Fannys Beisein nicht im Geringsten, umso jäher aber fielen seine Blicke über Helene her, kaum dass Fanny ihnen den Rücken zukehrte. Die Fenster der Veranda waren beschlagen, in der Wohnung wurde noch kräftig geheizt, und der Februarschnee blieb auf den Bäumen und Dächern liegen.
Die Tür wurde geöffnet und das Hausmädchen Otta brachte auf einem Tablett eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Tee. Aus Ceylon, sagte Otta und stellte die Kanne auf den Tisch. Sie stülpte einen silbern schimmernden Wärmehut über die Kanne und entschuldigte sich.
Ich liebe euch, flüsterte Fanny wieder. Ihr schwarzer Königspudel, der auf den Namen Cleo hörte, sie sprach es englisch aus und behauptete, es käme von Cleopatra, wedelte mit dem kurzen Schwanz, ein weiches Knäuel. Sein Fell glänzte. Er blickte aufmerksam von einer jungen Frau zur anderen. Wenn Fanny ihm ein kleines Stück vom Mohnkuchen zuwarf, schnappte er es auf, ohne sie dabei anzusehen, so, als warte er auf keine süße Zuwendung, sondern gehöre seine Aufmerksamkeit ganz dem Gespräch. Mit dem Taschentuch tupfte sich Fanny die Nase ab, nicht nur im Winter musste sie häufig schniefen.