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Scham ist etwas für andere Mädchen, nicht für Schönheiten wie sie eine sei. Das sagte der Baron laut aus der anderen Ecke des Zimmers, in dem sie sich an einem Sonntagmorgen, an dem niemandem mehr einfiel zur Kirche zu gehen oder auch nur an Gott zu denken, verabredet hatten. Er hoffte, Helene damit hinter dem Paravent hervorzulocken. Sie sollte es ja nicht umsonst tun, sich zeigen. Sie bekam etwas dafür. Der Baron wedelte mit einem Schein. Dass ihre Brüste winzig waren, störte den Baron wenig, er hielt es für ein Zeichen ihrer Jugend. Ihr blondes Haar machte ihn froh. Er lachte, sie sei ja noch ein Kind. Das gefiel ihm und er zeichnete und fiel und fiel einfach nicht um. Helene wurde müde. Nach einigen Wochen sagte er, sie sei eine Magierin, da sie jeden Tag anders aussähe und ihn neu sehen ließe. Der Baron sprach davon, dass sie ihm neue Augen schenke, jeden Tag. Er gab ihr die frischgepressten Münzen und die druckfrischen Scheine, auf denen jetzt nicht mehr Rentenmark, sondern Reichsmark stand, und die Helene wie Eintrittskarten in ein selbstbestimmtes Leben erschienen.

Helene ging nun tagsüber in die Apotheke, bewies dort ihre Verschwiegenheit, und abends zog sie sich für den Baron aus, für einen Baron, der sie als Magierin und Kind sah und in dessen Gegenwart sie sich doch zum ersten Mal als Frau fühlte. Das verheimlichte sie ihm. Schließlich lag es an der Scham und an der Aufregung, nicht etwa an seinem taxierenden Blick, mit dem er um sie herum schlich, sie bat, sich zu setzen, zu legen, den Arm anzuwinkeln, und das linke Bein etwas mehr nach außen, ja, so zu spreizen; und bald hatte er eine Sehnenentzündung. Helene musste an jenen Drachen denken, der auf dem Felsen lebte und sich von Jungfrauen ernährte. Sie war sich keiner Schuld bewusst, er erregte ihr Mitleid. Er konnte die Kohle nicht mehr halten. Helene sollte sich nicht mehr ausziehen. Sie verdiente nicht mehr sein weniges Geld und ging nun länger in die Apotheke.

Abends, wenn sie aus der Apotheke kam, brachte Helene in einer kleinen Schachtel weißes Pulver mit, das sie Fanny zum Beweis ihrer Vertrauenswürdigkeit wortlos auf den Nachttisch stellte. Für Martha sorgte Leontine, wenn auch widerwillig, nur manchmal, wenn sich eine gute Gelegenheit ergab, brachte Helene für Martha etwas Morphium aus der Apotheke mit. Im Berliner Zimmer saß der Baron auf der Chaiselongue und erwartete Helene mit seinen traurigen und verlorenen Augen. Dass er sie nur ansah und nicht anrührte, mochte Helene. Alle Frauen um sie herum pflegten Verhältnisse. Helene fühlte sich nicht mehr zu jung, nur konnte sie sich nicht entscheiden. Sie verband den Arm des Barons und kühlte und wärmte ihm die Sehne. Er schenkte ihr ein Sträußchen hellgelbe Astern. Sie nahm es gerne an. Schon während sie die Blumen in eine Vase stellte, stellte sie sich vor, es wären späte Rosen und wie es wäre, wenn Clemens, der Apotheker, ihr diese Blumen geschenkt hätte. Helene wollte lieben, mit aller Unbedingtheit und Furcht, die wohl dazu gehörte. Aber war das schon alles, das Kitzeln im Bauch und das Flimmern unter der Brust? Sie musste lächeln. Fannys Glauben, es handele sich bei Clemens um einen Freund, konnte Helene nicht teilen. Der ausgemergelte Apotheker, an den Helene häufig denken musste, wenn sie mal einen Tag frei hatte, blickte weder Fanny noch einer anderen Frau länger in die Augen als nötig. Auch sah er keiner von ihnen nach und sprach kein Wort zuviel. Einzig, wenn seine Frau die Apotheke betrat und mit zwei, drei ihrer insgesamt fünf kleinen Kinder an den Rockzipfeln etwas abholen oder erfragen wollte, die Kälte hatte ihr rundes Gesicht gerötet und ihre riesigen blauen Augen leuchteten, öffnete sich das Gesicht des Apothekers und er erwachte. Er küsste seine Frau und herzte seine Kinder, als sähe er sie nur selten.

Der Apotheker kam aus keiner vermögenden Familie, er verdiente sein Geld schwer und musste Schulden für die Apotheke auslösen. Tagsüber verzehrte er sich nach seiner Frau und den Kindern. Wenn Fanny in ihm einen Freund sah, mochte es daran liegen, dass sie nicht erkannte, wie wichtig ihm das Geldverdienen war. Helene schrieb auf der Schreibmaschine für ihn die Bestellungen, Briefe und Abrechnungen. Er zeigte ihr, zu welchen Konsistenzen sich Fette und Säuren mischen ließen, brachte ihr notwendige Kenntnisse über die Reaktionen von Basen und Säuren bei und überließ ihr schließlich ein dickes Buch für das Lernen zu Hause. Helene wusste, dass sie diese Kenntnisse für ein mögliches Studium benötigen könnte, also eignete sie sich alles an, was ihr geboten wurde. Sie machte es sich zur Gewohnheit, dem Apotheker jeden Abend fünf Maiblätter, und wenn das große Glas leer war, ihm aus dem kleinen Glas Himbeeren und Veilchenbonbons einzupacken. Seine Kinder freuten sich darüber. Helene arbeitete seine Rechnungsbücher vor und rührte Salben an, sie blieb nach Ladenschluss in der Apotheke, wenn er schon nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern eilte. Das Abzweigen von Giften war ein Leichtes, nach kurzer Zeit kannte Helene die Unterschriften und Stempel der Ärzte, sie wusste, wer was wem verordnete und wo sie eine Null an die Bestellungen hängen konnte. Aus zwei Gramm Kokain wurden zwanzig, aber nur selten aus einem Gramm Morphium zehn und hundert. Die Bestellungen nahm sie selbst entgegen, sie wusste, wann der Lieferant kam. Sie ordnete die Gläser und Schachteln selbst, bestätigte den Empfang und wog die Substanzen. Der Apotheker wusste, dass er Helene vertrauen konnte. Sie entlastete ihn, in der Verantwortung, aber auch bei der Arbeit. Wenn sie die Kristalle zu Pulver rieb und in Kapseln stopfte und Flüssigkeiten in kleine Fläschchen füllte, genügten kurze Anweisungen und ein flüchtiges Lächeln. Im Laufe der Zeit lernte Helene hinzu, sie mischte Alkohol mit kostbaren Wirkstoffen und ermittelte Basen und Säuren der Tinkturen, so dass sie den Apotheker nicht weiter behelligen musste.

Aber das Lächeln des Apothekers war zu flüchtig. Ein sanftes Kitzeln im Bauch und ein Flimmern unter der Brust entfachte noch kein Feuer und bescherte Helene nicht das Verhältnis, von dem sie glaubte, dass sie es nun haben müsste.

Der Baron umschmeichelte sie und bewachte sie mit seinen aufmerksamen Blicken, nur ließ er jede noch so günstige Gelegenheit verstreichen, die Hand nach Helene auszustrecken.

Einmal saßen sie am frühen Abend beisammen, Martha hatte den Kopf auf Leontines Schoß gelegt und war eingeschlafen, Fanny stritt sich mit Erich über die weitere Abendgestaltung und Helene las aus der neuen Ausgabe von Rot und Schwarz vor. Der Baron hatte sich in den Sessel neben Helene gesetzt, nippte an einem Glas Absinth und lauschte.

Leontine entschuldigte Martha und sich, umständlich stand sie auf, Martha barmte, ihre Knochen, ihre Nerven, ihre Haarwurzeln taten weh, halb musste Leontine Martha tragen, halb stützte sie Martha, um mit ihr ins Bett zu kommen. Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, sprang Erich entschlossen auf. Die Nacht sei jung, und das nicht lang, er wolle endlich aufbrechen. Fanny hielt ihn am Hemd fest. Erich schüttelte sie ab. Nimm mich mit, flehte sie. Türen schlugen.

Plötzlich war Helene mit dem Baron allein, sie las weiter, wie Julian Madame Rênal anbot, ihr Haus zu verlassen, wie er angeblich die Ehre seiner Herzensdame und doch auch beider Liebe retten wollte, wie sich die Dame erhob und zu allem Leid bereit war. War dies nicht der Augenblick, in dem der Abstand zwischen dem Baron und Helene so ganz geronnen war, geschmolzen? Angeregt durch die fremde Leidenschaft, die hier größer zu werden schien als die Seiten im Buch, musste er bloß seine Hand ausstrecken. Aber er hob den Arm nur, um seine Hand jetzt auf der Lehne seines Sessels, zwischen sich und Helene, abzulegen. Mit der anderen hielt er fest sein Glas, nahm den letzten Schluck und füllte sich das Glas neu auf. Helene bemerkte, wie ihre Ungeduld in Ärger umschlug. Sie hielt beim Lesen inne.