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Der Baron wollte wohl ein Recht an ihrer Nacktheit äußern. Helene drehte sich um. Hinter ihr standen Fanny und Lucinde, sie hatten Bernard und einen Freund getroffen. Fanny forderte ihre Freunde und Nichten auf, sich ein Glas vom Tablett zu nehmen. Es war ein Glück, dass es in diesem Lokal laut war. Helene wollte dem Baron nichts erwidern, sie ließ nachlässig den Schal in ihren Armbeugen, auch das Klimpern mit den falschen Wimpern war aufregend, und es machte ihr gar nichts aus, wenn andere Männer ihre Grübchen sahen.

Leontine begrüßte einen jungen Mann, sie stellte ihn vor, sein Name sei Carl Wertheimer. Die Musik wurde so laut, dass Leontine schreien musste, während er sich mit den Händen die Ohren zuhielt. Er sei einer ihrer Studenten in der Pathologie, schrie Leontine, einer, der sich hineingeschummelt habe. In Wirklichkeit studiere er Philosophie und Sprachen, Latein, Griechisch, aber auch neuzeitliche Literaturen, offenbar wolle er Dichter werden. Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf. Niemals. Doch, sagte Leontine lachend, sie habe schon einmal beobachtet, wie er im Kreise von Studenten ein Gedicht auf gesagt hätte, gewiss ein selbst gedichtetes. Carl Wertheimer wusste nicht, wie ihm geschah. Er sei ein ganz gewöhnlicher Student, wenn er den Ovid oder Aristoteles zitiere, dann dürfe man das nicht mit den nachahmenden Bemühungen Heranwachsender vergleichen. Im Übrigen besitze er in Anbetracht der klugen Damen nicht den Mut, sich zu solchen Bemühungen zu bekennen. Leontine fuhr ihm über das Haar, so, wie eine große Schwester es machen könnte, sie ließ ihn als kleinen Jungen erscheinen, und Helene blickte ihn jetzt forschend an, seine Augen befanden sich auf ihrer Höhe, sein schmaler Körper war der eines Knaben. Er mochte in Helenes Alter sein. Helene sah ihn einen Augenblick lang wie einen, der zu ihr gehören könnte, aber noch galt seine Aufmerksamkeit ausschließlich Leontine. Es war deutlich, dass Carl Wertheimer zu Leontine aufblickte, nicht nur, weil sie wenige Zentimeter größer zu sein schien als er, vermutlich schätzte er diese ungewöhnliche Frau als Lehrerin, vielleicht war er ein wenig verliebt in sie.

Auf der Bühne gesellten sich weitere Musiker zu den ersten, auch sie spielten Posaune, Klarinette und Trompete. Die Töne wurden verschleppt, der Takt schlingerte und schwang. Zu Helenes Erstaunen begannen immer mehr Menschen um sie her zu tanzen, schon konnte Helene kaum noch den Tanzboden erkennen, das Parkett unter ihren Füßen vibrierte mit der Musik. Fanny und Bernard stürmten voran, Lucinde nahm Bernards Freund an die Hand, selbst Martha und Leontine mengten sich unter die Tanzenden, nur der Baron zog sich zurück. Er bewachte das Tablett mit den zurückgelassenen Gläsern, er stand mit dem Rücken zur Wand und ließ Helene, die noch unschlüssig war, nicht aus den Augen. Eine Hand legte sich sacht auf Helenes Arm. Ob sie tanzen wolle, fragte ein bartloser Mann, er nahm ihr das Glas aus der Hand und zog sie mit sich. Mit einer Hand hielt er Helene fest, als müsse er aufpassen und könne die Musik sie davonlocken, erst tragend, dann schnell, mit der anderen Hand berührte er wie zufällig beim Tanzen ihre nackten Arme. Kein Ding und kein Lebewesen blieb von der Musik verschont, sie ging durch sie hindurch, erfasste jedes Teilchen und wandelte in Bruchstücken der Zeit den Aggregatzustand des Raumes, der eben noch still und starr war, jetzt aber sich in einem Aufruhr befand, wie es Helene schien, der nicht nur jedes Molekül und jedes Organ in Schwingungen versetzte, sondern die Hüllen der Körper wie auch die Grenzen des Raumes strapazierte, ohne sie zu sprengen. Die Musik dehnte sich aus, erfüllte den Raum mit ihrem matten Glanz, einem zarten Glitzern, dem Sprühen feinster Melodien, die kein übliches Maß mehr kannten, sie bog die Körper der Tanzenden, krümmte sie, richtete sie auf, das Schilf im Wind. Einmal legte der Bartlose seine Hand auf ihre Hüfte, dass Helene erschrak, aber er wollte sie nur davor bewahren, mit einem tanzenden Paar zusammenzustoßen. Helene hielt Ausschau, sie erkannte Leontines Hals, ihr dunkles kurzes Haar, Helene drängte seitwärts, sie wand sich an den Körpern entlang, die sich ihr zuneigten und abwendeten, sie schlängelte sich durch die Tanzenden, der bartlose Mann folgte ihr mit jedem Schritt, vorbei an Tänzern, unter ihren Armen hindurch, bis Helene Marthas Hand erwischte und Leontines Lachen entdeckte. Der Bartlose ruderte wild mit den Armen, er drohte, er machte Handstand und kam wieder auf die Füße. Helene musste lachen. Sie versuchte, dem Eiern der Musik zu folgen, ihre Schultern und Arme bewegten sich, die Menschen um sie her zappelten, sie wirbelten sich in die Musik, verhedderten sich und traten einander auf die Füße. Die Musik erinnerte Helene ans Schaukeln: Wurde man angestoßen, riss der Schwung alles mit sich und wirkte zielgenau und stark, doch schon im folgenden Takt begann das Straucheln. Ließ man sich baumeln und streckte die Beine mal in die eine, dann in die andere Richtung, so begann ein Taumeln und ein Trudeln, ein elliptisches, mit einer eingeschriebenen Konsequenz sich verringernder Kreise. Marthas Kopf wackelte bedenklich, ihr Haar löste sich, wie eine Ertrinkende warf Martha ihre Arme in Leontines Richtung. Helene sah ihre glasigen Augen, den nachtverschleierten Blick, der keinen mehr traf und niemanden erkennen konnte. Sie winkte Martha zu, aber Martha stützte sich jetzt auf Leontine und ein trunkenes, etwas dümmliches Lächeln quoll aus ihrem Gesicht. Wieder stieß die Trompete vor, gab Anstoß und die Tanzenden gerieten ins Schwitzen und die nackten Arme und Schultern der Frauen glänzten im schmalen Lichtschein der kleinen Lampen. Im nächsten Augenblick konnte Helene das Veilchenblau von Leontines Kleid nicht mehr sehen, und Mar thas rührseliges Lächeln war verschwunden, ein neuer Rhythmus setzte ein, Helene schaute sich um, konnte aber weder Leontine noch Martha entdecken. Derweil erblickte sie den Rücken ihres bartlosen Tanzpartners vor sich, der nun mit einer anderen jungen Frau tanzte.

Helene fand sich allein inmitten der aufgebrachten Menge. Die Musik umfing sie, nahm Besitz, wollte herein in sie und zugleich hinaus, Helene stieß Arme und Beine von sich. Eine Angst ermächtigte sich Helenes Körper, Helene kannte keine der Bewegungen, noch wusste sie, wo sich der Boden befand. Selbst wenn der Boden nachgab, ihre Füße landeten und hoben sich von ihm, man befand sich in gegenseitiger Abhängigkeit. Helene wollte an den Rand gelangen, dorthin, wo sie den Baron vermutete, auch wenn sie seinen Hut nicht entdecken konnte und auch sonst keinen der ihrigen sah, aber die Tanzenden stießen sie immer wieder in ihre Mitte und ihre Beine hörten nicht auf, dem Rhythmus zu folgen. Nirgends war ein Verschwinden möglicher als inmitten dieser tanzenden Menschen. Helene gab sich hin; ihre Füße wurden von den Tönen der Klarinette gejagt, schon holte der Takt sie ein, mit den Armen stieß sie Löcher in die Luft.

Eine Hand griff nach ihr, sie kannte den Mann nicht. Sein Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen fast schwarz, und Helene tanzte. Mit jedem Tanz änderte ihr Gegenüber Gesicht und Gestalt. Bald tauchten Leontine und Martha wieder auf, Martha lachte ihr beim Tanzen zu, vielleicht, vielleicht galt das Lachen ihrer Himmelsrichtung, den Tönen, dem Verschwinden, aber Helene suchte nicht länger ihre Nähe. Es gab einen Blick, der Helene seit geraumer Zeit verfolgte, aus dem Dunkel neben der Bühne, von einem der kleinen Tische mit den grünen Lämpchen her. Helene erkannte Carl Wertheimer und war froh, dass er sie endlich entdeckt hatte. Vielleicht war er bloß neugierig, mit welchen Freunden sich Leontine umgab. Sein Blick war kein lästiger, er war aufmerksam. Carl Wertheimer trug noch seinen Mantel, der glatte Pelzkragen schimmerte, vielleicht war er im Aufbruch begriffen. Er rauchte eine kurze schlanke Pfeife. Immer wieder glitt sein Blick zu den anderen Tanzenden, zu Leontine, und wieder zurück zu Helene. Trotz der Jugend waren seine Züge ernst, würdevoll, musste Helene denken.

Die Klarinette rief, Helene sprang, die Posaune schob und Helene lehnte sich zurück, die Trompete lockte, Helene sträubte sich, noch.

Bald darauf knickte Helene mit dem Fuß um, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Damit sie nicht fiel, packte sie Marthas Schulter und stützte sich. Martha musste sie verwechselt haben, ohne genau auf sie zu achten, entfernte Martha Helenes Hand mit einer groben Geste. Das Riemchen von Helenes Schuh war gerissen, ihr blieb nichts anderes, sie nahm den Schuh in die Hand und drängelte sich zwischen den Tanzenden und ihrem süßsauren Geruch hindurch. An der Bühnenbrüstung hielt sie sich links. Kaum war sie der dunstigen Wärme der Tänzer und ihren hitzigen Fängen entkommen, zog es kühl aus der Dunkelheit. Gab es Fenster? Fenster gab es keine. Womöglich hatte jemand die Tür zum Lüften geöffnet. Helene blickte über die Köpfe hinweg, weit hinten im Dunkel des Raumes erkannte sie Fannys weißes Gesicht. Vom Hut des Barons war glücklicherweise weit und breit nichts zu sehen. Was trinken? Jemand rempelte sie an, Helene dankte flüchtig und eilte weiter. Ihr Weg führte vorbei an nachterschöpften Gestalten und morgenblassen Gesichtern. Ein Frösteln zog über ihren Rücken und unversehens blickte sie jenem Mann mit den hageren Gesichtszügen in die Augen.