Verzeihen Sie, sagte er, Sie sind eine Freundin von Leontine. Seine Stimme war erstaunlich tief für seine Jugend. Ihr Blick fiel auf seinen Pelzkragen. Das Schimmern war so schön, dass sie am liebsten den Pelz berührt hätte.
Helene nickte, gewiss kannte er ihren Namen nicht. Also sagte sie: Helene, Helene Würsich.
Wertheimer, Carl. Fräulein Leontine war so freundlich, mich zu Beginn des Abends vorzustellen.
Der Student.
Er nickte und bot ihr seinen Arm. Benötigen Sie Hilfe?
Und wie, mein Schuh ist hinüber. Helene hielt ihm zum Beweis den Schuh entgegen. Ihr fiel Martha ein, ängstlich schaute sie sich um und entdeckte ihre Schwester unter den Tanzenden, sie schlang ihre Arme um Leontine, es fehlte nicht viel und Martha würde Leontine vor aller Augen küssen. Ein leichtes Unwohlsein, ein zarter Ekel überkam Helene, es war mehr die Furcht vor dem Entdecken des Fremden, der Entblößung jenes Geflechts, zu dem sie als Schwester und Mitwisserin gehörte, als das schwache Gefühl des Ausgeschlossenseins. Rasch wollte Helene Wertheimers Aufmerksamkeit ablenken.
Ihr kennt Doktor Leontine schon lang?
Unsere Tante hat uns eingeladen, ihr Freundeskreis ist groß. Helene machte eine unbestimmte Geste. Ich fürchte, ich muss jetzt gehen.
Gewiss. Darf ich Sie begleiten? Es wäre nicht gut, wenn Sie allein durch die leeren Straßen hinken.
Gern. Weder Asche noch Tauben haben mir Anmut geschenkt, sagte sie und merkte, dass ihre Ohren glühten, mit dem Wort Anmut meinte sie wohl so etwas wie jungfräuliche Geduld.
Helene verabschiedete sich von ihrer Tante. Fanny würdigte den jungen Studenten Wertheimer keines Blickes, sie versicherte Helene, dass Otta zu Hause die Tür öffnen werde.
Draußen war es hell geworden. Die Vögel schilpten nur noch leise dem längst angebrochenen Sommertag entgegen und die Laternen waren erloschen. Eine Droschke wartete auf Kundschaft. Offenbar mussten die ersten Menschen zur Arbeit gehen. An der Ecke stand ein Zeitungsverkäufer, er bot die Morgenpost und den Querschnitt an.
Der Querschnitt am frühen Morgen auf der Straße, Carl schüttelte lächelnd den Kopf.
Helene genoss die Begegnung mit Wertheimer, und während sie einander erste Fragen nach ihrem Leben stellten, verschwieg sie ihm, wie nah sie wohnte. Ein Fuß im Schuh, den anderen auf dem Pflaster spürte Helene das Kleben der Straße, die Linden hatten über Nacht ihren Nektar tropfen lassen.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…, Wertheimer sah Helene forschend an.
Das Leben liegt in aller Herzen. Helene sagte es nebenher, als ginge es sie nichts an.
Wie in Särgen. Wertheimer frohlockte, doch Helene antwortete nicht mehr, sie zog es vor zu lächeln. Was ist, wollen Sie nicht weiter?
Ich habe vergessen, wie es geht.
Das glaube ich nicht. In seinen Blick trat Befremden, sie besänftigte ihn.
Sie sagen es so fröhlich, das Weltende ist ein trauriges Gedicht, meinen Sie nicht?
Traurig nennen Sie das? Es ist optimistisch, Helene! Was ist verheißungsvollerer als die Hingabe, der Kuss, eine Sehnsucht, die uns umfängt und sterben lässt.
Glauben Sie, sie denkt an Gott?
Keineswegs, das Göttliche ist ihr näher. Wie anders beginnt ihr Gedicht, als mit mehrfachem Zweifel, sie spricht vom Weinen, als ob der liebe Gott gestorben wär. Aber glaubte sie an Gott, würde sie ihm die Unsterblichkeit zugestehen, als ob ist eine doppelte Ablehnung des Glaubens, sie glaubt nicht an den lieben, so wenig wie an den bösen oder irgendeinen. Gottes Sterben sollte ein Weinen in der Welt verursachen, die Welt weinen wegen ihm oder weinen, weil sie ihn los ist?
Helene sah Wertheimer an, sie durfte nicht vergessen, die Lippen zu schließen. Hatte nicht Martha immer zu ihr gesagt, sie solle den Mund zumachen, sonst flögen Fliegen hinein? Noch nie hatte sie einen Menschen über ein Gedicht sprechen hören.
Gehörte das Gedicht nicht ihr, ihr allein? Eifer entfachte, Helene sprach drauflos, um ihr Gedicht mehr als um ihr Leben, aber das ließ sich gegenüber einem Wertheimer nicht mehr scharf trennen.
Lasker-Schüler delektiert sich nicht an Gott, sie erfreut sich auch nicht an den Menschen und ihrem Leid, dem sie gehorchen, nur gönnt sie ihnen einen Kuss vor dem Vergängnis. Glauben Sie mir, die eigene Sterblichkeit, der sie ins Auge blickt, ob an der Sehnsucht und begleitet von einem Weinen oder nicht, diese menschliche Sterblichkeit, ihre Einsicht, die Unausweichlichkeit, die steht doch deutlich der Unsterblichkeit Gottes gegenüber.
Lesen Sie Gedichte immer von hinten?
Nur wenn jemand kommt, der auf Linearität besteht.
Der junge Mann wollte die Straßenbahn oder einen Autobus nehmen und bog um die Ecke.
Und Sie benutzen gern lateinische Begriffe, delektieren sich, unterstellen mir Linearität!? Ich verlasse die Gerade gern und werde gewiss auf gar nichts bestehen, Ihnen gegenüber nicht. Wertheimer gab seinen Worten Strenge, im nächsten Augenblick leuchtete Schalk aus seinen Augen. Wie steht es mit dem Müll von Kultur und Wissenschaft? Sagen Sie, halten Sie nicht unsere ganzen Bemühungen für verwerfliche Anmaßung? Hat der Club, in dem jeder Vorsitzender sein darf, nicht den größten Zulauf? Ist Dada ein Papierkorb für die Kunst?
Helene überlegte. Was sollte schlecht an Unterschieden sein, sagen Sie mir das? Es war eine aufrichtige Frage, schließlich, so dachte Helene, wen störten all die Clubs, solange jeder gründen und beitreten konnte, sooft er nur wollte.
Am Kurfürstendamm ließen sie die erste Straßenbahn durchfahren, sie war voll besetzt, allein die Mutigen schwangen sich auf und ihr Gespräch ließ keine Pause zu, fand keine Unterbrechung für ein bisschen Mut, noch für den Kuss.
Sie kennen den Lenz von Büchner, woran leidet er, Helene?
Helene sah, mit welcher Neugier Carl auf ihre Antwort lauerte, sie zögerte. An dem Unterschied. Das meinen Sie? Aber nicht jeder Unterschied verursacht Leid.
Nein? Carl Wertheimer schien plötzlich zu wissen, worauf er hinauswollte. Er wartete nicht mehr auf ihre Antwort. Sie sind eine Frau, ich ein Mann — glauben Sie, das bringt Glück?
Helene musste lachen, sie zuckte mit den Achseln. Was sonst, Herr Wertheimer?
Selbstverständlich, werden Sie sagen, Helene. Zumindest hoffe ich das. Das sei Ihnen zugestanden. Aber nur, weil Glück und Leid sich nicht ausschließen. Im Gegenteil, Leid schließt die Vorstellung von Glück in sich ein, birgt es gewissermaßen. Die Vorstellung vom Glück kann im Leid niemals verloren gehen.
Nur sind die Vorstellung vom Glück und das Glück selbst ja verschiedene Dinge. Helene spürte ihre Langsamkeit, sie hinkte, nur kurz bemerkte sie, wie weh ihre Füße taten. Lenz hat doch alles, seine Wolken sind rosa, der Himmel leuchtet — all das, wovon andere bloß träumen.
Helene und Carl bestiegen einen Autobus gen Osten, sie nahmen an Deck Platz, der Fahrtwind wehte ihnen entgegen, und damit Helene nicht fror, legte Carl seinen Mantel um ihre Schultern.