Wilhelm holte Helene vom Dienst ab, wie immer hatte sie zehn Stunden gearbeitet und war mit zwei Pausen elf Stunden lang im Krankenhaus gewesen, er führte sie am Arm in die Konditorei und obwohl es bereits sechs Uhr am Abend war, bestellte Wilhelm Kuchen und Kaffee. Er zog Helene über den Tisch zu sich heran, sie müsse ein Geheimnis wahren. Er sei nicht nur für den Bau der 4 a Berlin — Stettin verantwortlich, sie werde sehen, eines Tages werde man bis nach Königsberg kommen! Wilhelms Augen glitzerten. Seine Stimme wurde jetzt noch leiser: Das Geheimnis sei aber dieses, die Wahl sei ausgerechnet auf ihn gefallen. Er habe den Auftrag erhalten, das unter seiner Aufsicht entwickelte Funkgerät dem Stettiner Flugplatz zu übergeben und den Peilsender an dem außerordentlich hohen Mast anbringen zu lassen. Der Flughafen sollte für die Luftwaffe ausgebaut werden. Wilhelm strahlte, er sah nicht stolz aus, eher verwegen und kühn. Seine Augen erkannten und versprachen Abenteuer. Wie selbstverständlich nahm Wilhelm ihre Kuchengabel, stach ein Stück des Kuchens ab und führte es zu ihrem Mund. Seine Tätigkeit habe sich so stark in Richtung Pommern verlagert, dass man ihm nahegelegt habe, seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen.
Helene nickte, sie beneidete Wilhelm nicht um seine Lebensfreude und die Begeisterung, den Glauben, etwas Wichtiges für das Volk, die Menschheit, insbesondere den technischen Fortschritt tun zu dürfen. Seine Freude gefiel ihr, die Leichtigkeit, mit der er lachte und sich auf die Schenkel klopfte, die war angenehm rücksichtslos, wie das Kichern der Schwestern.
Freust du dich? Das fragte Wilhelm Helene und ließ den Arm mit der Gabel sinken, als er bemerkte, dass sie keine Miene verzog und auch den Mund für den Kuchen nicht öffnete.
Bitte frag mich nicht. Helene blickte von der Tasse Kaffee auf und zum Fenster hinaus.
Doch, ich muss dich fragen, sagte Wilhelm. Ich will auf dich in Zukunft nicht mehr verzichten, sagte er und biss sich auf die Lippen, weil er sich ein solches Geständnis für den Zeitpunkt nach einer gewissen Frage hatte aufheben wollen. Doch Helene schien das Geständnis nicht gehört zu haben.
Als Wilhelm im kommenden Frühjahr einmal nach einem guten Monat Planungsarbeiten aus Pommern zurückkehrte, kaufte er beim Juwelier am Bahnhof zwei Ringe zur Verlobung und holte Helene vom Krankenhaus ab. Er hielt ihr den Ring unter die Nase und fragte Helene, ob sie seine Frau werden wolle.
Helene konnte ihn nicht ansehen.
Sie überlegte, was sie ihm antworten sollte, sie wusste, wie es ging, das Strahlen, das Lächeln, es war ganz einfach, man musste nur die Mundwinkel hochziehen und die Augen dabei aufreißen, vielleicht war es mit dieser Mimik gar möglich, einen Augenblick Freude zu empfinden?
Da staunst du, was?
So etwas wie mich dürfte es gar nicht geben, platzte sie heraus.
Was willst du damit sagen? Wilhelm verstand nicht, was sie meinte.
Ich will damit sagen, dass ich keine Papiere besitze, keinen Ahnenpass, nichts, Helene lachte jetzt, und wenn ich einen besäße, stünde unter Bekenntnis der Mutter das Wort mosaisch.
Wilhelm blickte Helene scharf an. Warum sagst du so etwas, Alice? Deine Mutter lebt irgendwo in der Lausitz. Hat deine Schwester nicht gesagt, sie wäre ein schwieriger Fall? Es klang, als wäre sie krank. Hängst du an ihr, bedeuten dir deren Feiertage etwas? Ungläubig schüttelte Wilhelm den Kopf, Mutwille und Zuversicht traten in sein Gesicht: Folg mir, werd meine Frau und lass uns ein Leben beginnen.
Helene schwieg. Ein Wilhelm kannte keine Gefahr und keine Hürde. Helene blickte ihn nicht an, sie empfand eine seltsame Steife im Nacken; würde sie den Kopf schütteln, konnte er sie feige nennen, mutlos. Sie würde zurückbleiben. Nur wo?
Willst du mir sagen, du misstraust mir, weil ich Deutscher bin, weil ich von einer deutschen Mutter und einem deutschen Vater und die wiederum von deutschen Müttern und Vätern geboren worden sind?
Ich misstraue dir nicht. Helene schüttelte den Kopf. Wie konnte Wilhelm ihr Zögern nur als Misstrauen verstehen? Sie wollte ihn ja nicht ärgern. Sie zweifelte ein wenig, was blieb ihr anderes übrig. Auch ihre Mutter war Deutsche, nur verstand Wilhelm jetzt offensichtlich Deutschsein als etwas anderes, als etwas, das sich nach moderner Meinung in rassischen Merkmalen ausdrücken und im richtigen Blut beweisen lassen musste.
Dein Name ist Alice, hörst du? Wenn ich das sage, dann ist das so. Wenn du keinen Ahnenpass hast, werde ich dir einen besorgen, glaub mir, einen einwandfreien, einen, der keinen Zweifel an deiner gesunden Herkunft lässt.
Du bist verrückt. Helene war erschrocken. War es möglich, dass Wilhelm auf die neuen Gesetze anspielte, denen zufolge sie im Krankenhaus jede Missbildung protokollieren und anzeigen mussten, weil um jeden Preis erbkranker Nachwuchs verhindert werden sollte? Und galten nicht bestimmte geistige und seelische Erkrankungen, wie solche, in deren Verdacht sich ihre Mutter in den Augen mancher Nachbarn befand, ebenfalls als erblich und unbedingt zu vermeiden? Strotzende Gesundheit war oberstes Gebot, und wer nicht gesunden und strotzen konnte, sollte möglichst schnell sterben, ehe das deutsche Volk Gefahr lief, angesteckt oder durch kranken Nachwuchs verunreinigt, beschmutzt zu werden.
Glaubst du mir nicht? Ich werde alles für dich tun, Alice, alles.
Was meinst du mit gesunder Herkunft? Helene wusste, dass sie von Wilhelm keine schlüssige Antwort erhalten würde.
Eine saubere Herkunft, meine Frau wird eine saubere Herkunft haben, das ist alles, was ich meine. Wilhelm strahlte. Schau nicht so grimmig, mein Schatz, wer hat wohl ein saubereres und reineres Herz als diese bezaubernde blonde Frau mir gegenüber?
Helene staunte über seine Ansicht. Womöglich rührte sie von ihrer körperlichen Verweigerung her?
Die Menschen brechen auf und verlassen Deutschland. Fannys Freundin Lucinde begleitet ihren Mann nach England, sagte Helene.
Wer an seinen Wäldern und seiner Mutter Erde nicht hängt, der soll nur seiner Heimat den Rücken kehren. Sollen sie gehen, von mir aus. Sollen sie alle abhauen. Wir haben hier etwas zu tun, Alice. Wir werden die deutsche Nation retten, unser Vaterland und unsere Muttersprache. Wilhelm krempelte seine Ärmel auf. Wir haben das Darben nicht verdient. Mit diesen Händen hier, siehst du? Kein Deutscher darf jetzt seine Hände in den Schoß legen. Verzagen und Klagen, das ist unsere Sache nicht. Du wirst meine Frau, und ich gebe dir meinen Namen.
Helene schüttelte den Kopf.
Du zögerst? Du willst dich doch nicht aufgeben, Alice, sag mir das nicht. Er sah sie streng und ungläubig an.
Wilhelm, ich verdiene deine Liebe nicht, ich habe ihr nichts zu erwidern.
Das kommt noch, Alice, da bin ich sicher. Wilhelm sagte es ganz frei und klar, als läge es nur an einer Abmachung, einer Entscheidung, die sie einigen würde, nichts an ihrer Aussage schien ihn zu kränken oder auch nur gering zu verunsichern. Sein Wille würde siegen, der Wille, Wille schlechthin. Ob sie gar keinen habe? Natürlich braucht ein Weib eine gewisse Zeit nach so einem Verlust, sagte er. Ihr wolltet heiraten, du und dieser Junge. Aber das ist jetzt Jahre her, du musst die Zeit der Trauer einmal beschließen, Alice.
Helene hörte Wilhelms Worte, die ihr sogleich dumm und dreist erschienen, mit denen er über sie hinwegredete. Seine Erhabenheit und der Befehl, der in seinen Worten lag, empörte sie. Es gab Worte, die musste man sich aufheben. Etwas an seinem Heldenmut erschien Helene verdächtig, etwas schien ihr daran von Grund auf falsch. Im nächsten Augenblick erschrak Helene über sich selbst. War sie missgünstig? Wilhelm war frohgemut, sie würde von ihm lernen können. Helene bereute ihren Ärger wie ihre Ablehnung. War es nicht nur ihre Trauer um Carl, eine weibische Trauer, wie Wilhelm sie freundlich nannte, die Helene seinen Glanz und seine Lebenslust so schwer ertragen ließ?