Aber noch hatte sie Zeit. Während sie an der Uhr vorbeigingen, rückte der Minutenzeiger mit einem hörbaren Klick um einen Strich weiter, aber irgendwie wußte sie, daß seine Reise noch nicht zu Ende war.
Die Zahl des Tieres war noch nicht erreicht.
Stefan deutete stumm auf die Wohnzimmertür, durch die noch immer diese sonderbaren Laute drangen. Etwas stimmte nicht mit ihr. Wie Stefan - wie das ganze Haus - begann sie sich zu verwandeln, aber die Veränderung war noch nicht deutlich genug, als daß sie sie genau erkennen konnte. Ihre Form schien ein ganz kleines bißchen anders, Linien und Winkel um eine Winzigkeit verschoben, in eine Richtung verschoben, die es gar nicht gab, alles wirkte weicher, fließender, organischer...
»Geh endlich!« Stefan versetzte ihr einen derben Stoß zwischen die Schulter blätter, und draußen auf dem Hof wurde das Nageln eines Dieselmotors laut. Die Lichtbündelder Scheinwerfer wischten über das Glas der Eingangstür;für eine Viertelsekunde war die Diele in kalkweiße Helligkeit getaucht, Stefans Gesicht eine Totenmaske mit schwarzem Ausschlag, die Einrichtung und ihre Schatten verzerrt wie Ausschnitte aus einem surrealistischen Bild, dann wanderten die Licht bündel weiter, und Dunkelheit senkte sich über Liz.
Stefan erstarrte. Für einen Moment wirkte er unentschlossen, und für einen noch kürzeren Augenblick sah er aus, als würde er in Panik geraten. Wer immer dort kam, dachte Liz, Stefan hatte ihn nicht erwartet. Aber der Moment verstrich ungenutzt. Wenn es überhaupt eine reelle Chance gewesen war, ergriff Liz sie nicht. Stefans Schrecken verging so schnell, wie er gekommen war. Er fuhr herum, packte sie grob am Arm und stieß sie grob zur Seite.
»Da hinein«, fauchte er, während er die Tür zu Peters Kammer auf stieß, voller Ungeduld und so heftig, daß sie drinnen gegen die Wand prallte. Der Laut, mit dem sie es tat, klang sonderbar gedämpft und weich in Liz' Ohren, und dahinter lastete graues Licht, wie ganz matt leuchtender Nebel. (Die TÜR! Plötzlich erinnerte sie sich: Großer Gott, die...) »Nein!« keuchte Liz. »Nicht dort hinein!« Sie bäumte sich auf, versuchte mit aller Gewalt, seinem Griff zu entschlüpfen, aber Stefans Hand legte sich wie eine eiserne Klammer um ihren Nacken; seine Finger drückten mit entsetzlicher Kraft auf die empfindlichen Nerven bahnen in ihrem Hals, und der Schmerz explodierte wie eine Sonne in ihren Schultern. Draußen auf dem Hof er starb das Tuckern des Dieselmotors, aber eine Sekunde später erscholl ein dreifaches, abgehacktes Hupen, dann klappte eine Autotür. Schwere Schritte näherten sich dem Haus.
Stefan schleuderte sie auf Peters Bett herab. »Du bleibst hier«, sagte er. »Wenn du schreist, bringe ich dich um.«
Das schlimmste war der Ton, in dem er das sagte: der gleiche Ton, in dem er Ach, wenn du in die Stadt fährst, bring mir doch bitte Zigaretten mit gesagt hätte. Er würde sie töten, wenn sie auch nur einen Mucks von sich gab, das war klar.
Draußen kamen die Schritte näher, und dann polterte jemand gegen die Tür, kein Klopfen, sondern das schwere Hämmern ungeduldiger Fäuste. Stefan warf ihr noch einen letzten, drohenden Blick zu, zog die Tür hinter sich ins Schloß und drehte den Schlüssel herum.
Liz blieb einen Moment reglos liegen, bis sich das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf halbwegs beruhigt hatte. Sie schmeckte Blut, und wieder wurde ihr übel. Wie durch dichten dämpfenden Nebel hindurch konnte sie hören, wie Stefan zur Tür ging und sie öffnete. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, und gleich darauf antwortete eine andere Stimme. Sie verstand auch ihre Worte nicht, aber sie erkannte sie. Belderson.
Es war Belderson, der gekommen war.
Aber warum? Was wollte er hier, zu dieser Zeit? Gehörte er... Großer Gott, gehörte er dazu ?!
Liz stemmte sich hoch, drängte Übelkeit und Schmerz zurück und schleppte sich zur Tür. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich seltsam an, die jahrhundertealten Bohlen waren weich wie Schwämme, und ihre Schritte verursachten nicht das aller mindeste Geräusch. Plötzlich fiel ihr die Wärme auf, eine seltsam lebendige Art von Wärme, fast schwül, wie...
Sie verjagte die Vorstellung (Wie oft würde es ihr noch gelingen, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, die sie längst erkannt hatte?), kämpfte auch ihren Ekel nieder und legte das Ohr gegen die Tür; ein Gefühl, als presse sie das Gesicht gegen eine gewaltige blutige Wunde.
Sie konnte noch immer nicht verstehen, was Stefan und Belderson redeten, aber es war deutlich, daß es ein sehr erregtes Gespräch war, fast ein Streit. Stefan schrie, und Beldersons Antworten waren kaum leiser. Egal - was immer dort draußen vorging; sie konnte es nutzen.
Sie blickte zum Fenster. Die Dunkelheit draußen war intensiver als die hier drinnen. Einen Moment lang zögerte sie noch, lauschte - der Streit wurde allmählich lauter, und ein-, zweimal glaubte sie deutlich ihren Namen zu hören - und wandte sich entschlossen um. Ganz kurz bevor sie das Fenster erreichte, schoß ihr durch den Kopf, daß es eine Falle sein mochte. Es erschien ihr absurd, daß Stefan dieses Fenster einfach vergessen haben sollte. Möglicherweise sollte sie dort hinaus klettern, um... Blödsinn. Stefan war in Panik geraten, als er den Wagen hörte. Menschen, die in Panik sind, machen Fehler. Monster wahrscheinlich auch.
Sie erreichte das Fenster, legte die Hand gegen die Scheibe - sie war eiskalt - und zögerte noch einmal, griff aber dann entschlossen nach dem Riegel und drehte ihn herum. Er bewegte sich erstaunlich leicht. Nur das Fenster ging nicht auf. Für einen Moment drohte sie nun in Panik zu geraten. Der Riegel war offen, aber der Fensterflügel bewegte sich nicht um einen Millimeter. Er saß so fest, als wäre er angeleimt. Und genau das war er auch, wie sie eine Sekunde später begriff. Ihres Wissens war dieses Fenster niemals geöffnet worden, aber die Vorbesitzer des Hofes hatten es - wie alle Fenster und Türen - frisch gestrichen, und irgendein Hirni hatte es zugedrückt, ehe der Lack richtig getrocknet war;einen besseren Leim gab es gar nicht. Sie sprang zurück, hob die Faust und ließ den Arm wieder sinken. Sie hatte nur diesen einen Versuch. Sie mußte vorsichtig sein.
Zitternd vor Ungeduld und Angst sah sie sich im Zimmer um. Es war schwer, in der kränklichen grauen Beleuchtung irgend etwas zu erkennen, aber sie kannte die jämmerliche Einrichtung ja, und Peter hatte nichts verändert; da waren der wackelige Tisch mit seinem einzelnen Stuhl, das Bett und ein windschiefes Etwas, das von sich behauptete, ein Schrank zu sein. Schrank und Bett waren zu schwer; außerdem würde sie zu viel Lärm machen, wenn sie sie bewegte.
Aber der Tisch ging.
Liz hob ihn hoch - er war sehr viel schwerer, als sie gedacht hatte -, kippte ihn auf die Seite und verkeilte ihn so unter der Türklinke, daß er Stefan wenigstens einige Augenblicke aufhalten würde. Anschließend fiel sie auf die Knie, krümmte sich vor Schmerz und übergab sich würgend. Der Schmerz raubte ihr jetzt fast die Besinnung. Warmes Blut lief an ihren Beinen herab, und das Zimmer drehte sich um sie. Aber sie durfte nicht ohnmächtig werden. Nicht, wenn sie jemals wieder aufwachen wollte.