Natürlich wußte Liz all dies, aber es war ihr egal. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, war sie es, die nicht über die Folgen ihres Tuns nachdenken wollte, sondern einfach nur reagierte. Es war ihr gleich, ob Stefan betrunken war oder nicht, es war ihr gleich, ob er im besten Fall seinen Führerschein und einen Haufen Geld und im schlechtesten ihrer beider Leben aufs Spiel setzte, es war ihr vollkommen gleich, was geschehen würde - alles, was sie wußte, war, daß sie hier weg wollte, fort aus dieser entsetzlichen Stadt, fort aus diesem Haus, weg aus Gabis und Rainers Gesellschaft und vor allem fort aus der Nähe ihrer beiden verrückten Freunde. Mit jener fast übernatürlichen, auf Details beschränkten Klarheit, die sonst nur Geistesgestörten oder Genies zu eigen ist, begriff sie, daß es nur noch einen einzigen Ort auf der Welt gab, an dem sie sicher war: Eversmoor. Möglicherweise wartete gerade dort das Grauen auf sie, aber was immer es sein mochte, es war nicht so schlimm wie das, was sie hier erwartete. Sie kam sich ein bißchen vor wie eine Süchtige, und sie war es wohl auch.
Gabi und Rainer hatten nicht versucht, sie zurückzuhalten. Es war unmöglich, daß sie nicht begriffen, in welchem Zustand sich Liz befand und daß Stefan nicht mehr fahrtüchtig war - aber keiner von ihnen reagierte auch nur mit einem Wort, als Liz erklärte, daß sie nach Hause wollte, und Stefan nur schweigend dazu nickte. Sie hatten ein Zimmer in einem Hotel ganz in der Nähe gebucht, aber keiner von ihnen kam auch nur auf den Gedanken, dort zu übernachten. Wie Liz schien auch Stefan ganz instinktiv zu spüren, daß es nur noch einen Ort auf der Welt gab, an dem sie sicher waren: Eversmoor.
Noch in der gleichen Nacht fuhren sie nach Hause, aber sie kamen erst mit dem ersten Grau der Morgendämmerung in Eversmoor an. Noch war es dunkel; die Scheinwerfer des Jaguars stachen zwei gelbe, asymmetrische Lichtsplitter in die Nacht, und Schatten griffen wie rauchige Hände nachdem niedrigen Sportwagen. Aber im Osten begann sich der Himmel bereits heller zu färben, und in einer halben Stunde, so schätzte Liz, würde es hell sein.
Es war eine lange Fahrt gewesen. Stefan mußte wohl doch mehr getrunken haben, als sie bemerkt hatte, denn es kostete ihn sichtliche Mühe, den Wagen zu fahren. Die Tachonadel war nicht einmal über die Hundert-Kilometer-Marke geklettert, und seine Hände hielten das Lenkrad so fest, als wollte er es zerbrechen. Es war vier Uhr gewesen, als sie die Autobahn verlassen hatten, und es würde - Liz warf einen flüchtigen Blick auf die kleine Uhr im Armaturenbrett - fünf werden, ehe sie das Gut erreichten. Fast fünf Stunden für eine Strecke, die sie unter günstigen Voraussetzungen in anderthalb zurücklegten. Liz war müde. Ihre Augen brannten, und sie hatte Kopfschmerzen, weil sie fast pausenlos geraucht hatte während der ganzen Fahrt. Stefan hatte kaum ein Wort mit ihr geredet, seit sie losgefahren waren, und wenn sie an den Zwischenfall in Hamburg zurück dachte, fühlte sie noch immer einen Schauder eisiger Furcht. Und trotzdem fühlte sie sich erleichtert; auf eine unmöglich in Worte zu fassende und noch unmöglicher zu begründende Art erleichtert. Schrecken und Furcht waren noch immer über deutlich in ihrem Gedächtnis, aber sie schienen zu verblassen, mit jedem Kilometer, den sie sich dem Gut näherten. Es war vielmehr als nur eine einfache Heimkehr. Ihr eigener Vergleich mit einer Süchtigen fiel ihr ein, und tatsächlich fühlte sie sich in diesem Moment ganz genau so. Je weiter sie sich Gut Eversmoor näherten, desto irrealer und verrückter kam ihr ihr Erlebnis in Hamburg vor. Die Erinnerung barg jetzt eine gänzlich andere Art von Schrecken in sich: jene Art von Furcht, die man beim Betrachten eines Horror-Filmes erleben mochte, vielleicht auch beim Lesen eines besonders gelungenen Thrillers: Eine sehr schlimme Furcht, die aber gleichzeitig auch sehr distanziert war. Was immer dort draußen auf sie lauern mochte, sie war vor ihm sicher, solange sie nicht hinausging in jene feindselige Welt außerhalb ihrer eigenen.
Ein Teil von ihr - sogar eigentlich der weitaus größte! - war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß diese Gedanken schlichtweg aberwitzig waren. Sie benahm sich ungefähr so logisch wie eine Fliege, die mit aller Macht versuchte, ins Netz der Spinne zurückzukriechen, aus dem sie gerade mit Mühe und Not entkommen war. Aber vielleicht war dieser Vergleich nicht einmal so falsch, dachte sie, und vielleicht machte er Sinn, weil der erste Biß der Spinne bereits gereicht hatte, sie süchtig zu machen.
Bin ich verrückt? dachte sie. Nicht zum ersten Mal, seit sie vor zwei - das heißt, jetzt schon beinahe vor drei - Tagen aus jenem absurden Traum aufgewacht war, stellte sie sich diese Frage allen Ernstes. War die Erklärung vielleicht wirklich so simpel - nämlich daß sie schlicht und einfach dabei war, den Verstand zu verlieren? Der Wagen schoß aus dem Wald heraus, und der Anblick von Gut Eversmoor, das im ersten fahl grauen Licht der Dämmerung unter ihnen lag, enthob sie einer Antwort auf diese Frage; wenigstens im Moment.
Es war ein sonderbares Gefühl. Und es war sehr viel intensiver, als es hätte sein dürfen.
Verwirrt setzte sie sich auf, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und blinzelte zu den Gebäuden hinüber. Jetzt, als sie den Wald verlassen hatten, der den Wagen für die letzten drei, vier Kilometer wie ein licht schluckender schwarzer Schwamm umschlossen hatte, sah sie, daß Stefan doch weitaus schneller fuhr, als sie bisher angenommen hatte. Vielleicht gab er auch einfach nur mehr Gas, um möglichst schnell nach Hause zu kommen. Er mußte zehnmal müder sein als sie. Und doch...
Etwas ... war ...
Etwas war...
War...
Verdammt! dachte sie mit einer Mischung aus Wut und Verunsicherung. Was, zum Teufel, war mit ihr los ?! Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen!
»Halt an!« murmelte sie.
Obwohl sie sehr leise gesprochen hatte, reagierte Stefan sofort. Er sah auf, blickte sie eine halbe Sekunde lang durchdringend an - und trat so hart auf die Bremse, daß sie unsanft in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Der Wagen schlitterte noch drei, vier Meter auf der kiesbestreuten Zufahrt weiter, brach wie ein bocken des Pferd aus und stellte sich nahezu quer, als Stefan das Steuer verriß; nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern einfach weil er wütend war und es zu einer seiner weniger angenehmen Angewohnheiten zählte, seine Wut beim Autofahren abzureagieren. Irgendeines Tages würde er sich auf diese Weise umbringen.
»Also?« fragte er, nachdem der Wagen vollends zum Stehen gekommen war. Liz wartete darauf, daß er den Motor abschaltete, aber er tat es nicht. Ihr Blick folgte dem gelben Finger der Scheinwerfer strahlen. Der Wagen war unmittelbar in der Einfahrt zum Halten gekommen, aber er stand ein wenig schräg, so daß die Scheinwerfer nicht auf das Wohnhaus gerichtet waren, sondern das verkohlte Gerippe des Gesindehauses beleuchteten. Mehr denn je erinnerten sie die geschwärzten Balken an das Gerippe eines großen Tieres, und die Schatten dazwischen schienen zu leben. Aber diesmal wußte sie, daß es nicht so war, und sie erlaubte ihrer Angst nicht, zu übermächtig zu werden.
»Gib mir eine Zigarette«, sagte sie.
Stefan schwieg einen Moment. Dann griff er in die Tasche, zog die Packung hervor und nahm zwei Zigaretten heraus. Mit sehr unsicheren Bewegungen riß er ein Streichholz an, zündete beide Zigaretten an und reichte eine davon an Liz weiter. Liz riß sie ihm fast aus der Hand, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch gegen die Windschutzscheibe. Stefan beugte sich vor, schaltete die Scheinwerfer aus und die Innenbeleuchtung ein; den Motor ließ er laufen. Liz blickte weiter zum Hof hinüber. Jetzt, als die Scheinwerfer abgeschaltet waren, hatte der Anblick nichts Gespenstisches mehr. Fast unbewußt registrierte sie, daß in Peters Zimmer und der Küche Licht brannte.