»Sondern?« fragte Liz.
Stefan schnaubte. »Ach verdammt, stell dich nicht dumm. Von einer hysterischen Ziege wie dieser Stefanie erwarte ich nichts anderes, aber du und ich, wir wissen, daß es tausend Erklärungen für dieses Phänomen gibt. Vielleicht warst du es selbst - oder sogar ich!« Er schüttelte abermals den Kopf, schloß für einen Moment die Augen und blickte dann wieder zum Haus hinüber. Vielleicht hatte er sogar recht, dachte Liz. Sie waren beide keine Profis in Parapsychologie, wie Stefanie und ihr kindischer Freund, aber Stefans Beruf und ihrer beider Interessen brachten es mit sich, daß sie doch eine Menge mehr darüber wußten als der Großteil der Leute, mit denen die beiden normalerweise zusammenkommen mochten. Es war möglich - wäre sie ehrlich zu sich gewesen, dann hätte sie zugegeben, daß es nicht nur möglich, sondern unter den gegebenen Umständen sogar wahrscheinlich war, daß sie selbst die Ursache all dieser Phänomene war, nicht irgendwelche lovecraftschen Gespenster dort drüben im Wald. Aber spielte das denn überhaupt eine Rolle? War es nicht egal, was sie um brachte - ein reales Gespenst oder ihr eigenes Unterbewußtsein? Sie wußte es nicht. Alles, was sie wußte, war, daß es irgendwie mit dem Haus zusammenhing, dem Haus und dem Wald und dem See und dem, was vor sechshundert Jahren hier geschehen war. Die einzelnen Teile des Puzzles waren da, aber sie war einfach nicht fähig, sie zu einem Bild zusammenzusetzen. Noch nicht. Vielleicht war dies die letzte Warnung. Möglicherweise war es kein Zufall, daß sie dieses Gespräch ausgerechnet hier und jetzt führten. Vielleicht war diese Fahrt nach Hamburg die letzte Chance gewesen, die sie hatte, und vielleicht sollte sie die Tatsache, daß Stefan ausgerechnet hier noch einmal angehalten hatte, als nun wirklich allerletzte Warnung des Schicksals ansehen und die einzige Konsequenz daraus ziehen - nämlich auf der Stelle kehrtmachen und nie wieder in dieses verdammte Haus zurückkehren.
Aber die Chance verstrich ungenutzt; wenn es überhaupt eine war, und nicht nur ein weiterer grausamer Scherz des Bewohners des Mitternachtssees. Wie gelähmt saß sie da, unfähig, irgend etwas auf Stefans Worte zu erwidern, irgend etwas zu sagen oder zu tun. Sie war dem See näher als dem Haus, so, wie der Wagen stand, und wenn all dies mehr als ein absurder Traum war, aus dem sie nur nicht erwachen konnte, dann wußte das Ding im See ganz genau, was sie dachte. Und wenn es so war - wie konnte sie sich einbilden, ihm entkommen zu können? Seine Macht hatte ausgereicht, sie bis nach Hamburg zu verfolgen - woher nahm sie den Größenwahn, sich auch nur eine Sekunde einzubilden, sie könnte ihm hier, im Zentrum seiner Macht, die Stirn bieten? Lächerlich!
18.
Stefan parkte den Wagen direkt vor der Haustür und klappte den winzigen Kofferraum auf, in den sie ihr Gepäck gequetscht hatten. Er machte nicht einmal den Versuch, ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Nicht, daß Liz besonderen Wert auf antiquierte Höflichkeiten legte, aber Stefans Verhalten zeigte deutlicher als seine Worte, wie gründlich ihr Verhältnis gestört war.
Sie ging die wenigen Schritte bis zum Haus, klappte ganz automatisch ihre Handtasche auf, um nach dem Schlüssel zu suchen, und schloß sie wieder, als ihr einfiel, daß die Tür sicherlich nicht abgeschlossen war; das Haus war ja nicht mehr leer. Und das Licht hinter den Fenstern bewies, daß Peter bereits wach war.
Sie sah auf die Uhr. Es war nicht einmal fünf. Stefan hatte nicht übertrieben, als er Peter als Frühaufsteher bezeichnet hatte. Liz überlegte vergeblich, was in aller Welt es auf diesem Hof zu tun geben mochte, das nicht bis zu einer normalen Uhrzeit warten konnte.
»Geh schon vor«, sagte Stefan, nachdem er die Koffer vor der Tür abgestellt hatte. »Ich fahr' noch rasch den Wagen in den Schuppen. Machst du uns noch einen Kaffee?« Liz nickte, obwohl ihr ganz gewiß nicht danach zumute war, sich jetzt noch in die Küche zu stellen und Kaffee zu kochen. Sie wollte nur ins Bett und schlafen. Aber auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.
Sie bückte sich nach ihrem Koffer, nahm ihn auf und öffnete ungeschickt mit der gleichen Hand die Haustür. Und noch einmal, ein allerletztes Mal, zögerte sie. Sie sollte nicht hier hineingehen, weder jetzt noch irgendwann. Es war nur ein Gefühl, noch dazu eines, das durch nichts wirklich begründet war, aber es war so deutlich, daßes beinahe die Qualität von Wissen erreichte: die Falle war dabei, sich zu schließen, und Stefan und sie taten alles in ihrer Macht stehende, noch im allerletzten Moment hineinzuschlüpfen...
Die Tür schlug hinter ihr zu, und das Geräusch schnitt den Gedanken ab. Warmes gelbes Licht umgab sie, und...
Es ging unglaublich schnell, aber das Gefühl durchströmte sie mit einer Intensität, die sie aufstöhnen ließ: irgend etwas veränderte sich. Es war nichts, was sie sehen oder hören oder mit irgendeinem ihrer anderen Sinne wahrnehmen konnte, aber sie spürte es über deutlich: Das Haus hieß sie willkommen.
Verwirrt blieb sie stehen, sah sich um und versuchte irgendeine wenigstens annähernd logische Begründung für diese sonderbaren Gedanken zu finden, was natürlich mißlang. Aber das Gefühl war zu intensiv, um es zu verleugnen.
Sie war wieder zu Hause.
Zurückgekehrt an den einzigen Ort auf der Welt, wo sie hingehörte.
»Verrückt«, murmelte sie. »Das ist... verrückt.«
Möglicherweise war es das - aber diese Erkenntnis half nicht im geringsten. Verrückt oder nicht, das stärkste Gefühl, das sie im Moment hatte, war das, nach Hause gekommen zu sein. Sie fühlte sich wie der Teil eines Puzzlespieles, der endlich an seinen angestammten Platz gefunden hatte, mehr noch, wie...
Und dann wußte sie es.
Mit einem Male wußte sie, woher das Gefühl der Bedrohung kam. Mit einem Male wußte sie, was diese Unruhe zu bedeuten gehabt hatte, woher das Gefühl kam, so schnell wie möglich zurückkehren zu müssen. Das Haus. Es war dieses Haus. Es hatte sie gerufen. Es brauchte sie. Brauchte sie, um...
... einer Gefahr zu begegnen?
Ja, das war es, das und nichts anderes. Nicht sie war es, die in Gefahr war, sondern das Haus.
Aber in welcher?
Plötzlich war ihr, als erwache sie aus einem Traum. Jäh, von einer Sekunde auf die andere, nahm sie ihre Umgebung mit fast übernatürlicher Klarheit wahr, jedes noch so winzige, scheinbar unwichtige Detail - das war die Tür zur Küche, unter der blasses gelbes Licht auf den abgedunkelten Korridor hinaus drang, daneben die zu Peters Zimmer, aber es war jetzt wieder eine normale Tür, nicht dieses entsetzliche DING, in das es sich vor ihren Augen verwandelt hatte. Es war sehr warm im Haus, und es war eine angenehme, sehr wohltuende, beschützende Wärme. Sie spürte all die vertrauten Gerüche, hörte die tausend kleinen Laute, die zu diesem Haus gehörten, die Stimmen, die aus der Küche...
Stimmen ?
Sie stellte den Koffer ab und lauschte einen Moment lang mit gerunzelter Stirn. Kein Zweifel - das waren Stimmen.
Und sie kamen aus der Küche. Hatte Peter Besuch?
Langsam trat sie auf die Küchentür zu, hob die Hand und zögerte dann noch einmal. Dann runzelte sie die Stirn. Was, zum Teufel, tat sie? Dies hier war ihr Haus, verdammt nochmal! Mit einer fast wütenden Bewegung drückte sie die Klinke herunter und stieß die Tür auf.
Die Küche war hell erleuchtet. Die Kaffeemaschine auf der Anrichte blubberte geschäftig vor sich hin, auf dem Tisch standen zwei Tassen, und in der Luft hing der Geruch von Peters starken selbst gedrehten Zigaretten. Heyning selbst saß am Tisch, und der Blick, mit dem er bei ihrem Eintreten auf sah, war eine Mischung aus Schrecken, Überraschung, schlechtem Gewissen und ganz eindeutiger Erleichterung. Und er war nicht allein.