Ohlsberg antwortete noch immer nicht, aber in seinem Blick war noch immer dieser sonderbare Ausdruck, der sie so sehr verwirrte: natürlich auch Zorn und Entrüstung, aber vor allem etwas, was sie gerade von ihm am allerwenigsten erwartet hätte - Mitleid.
»Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte Stefan halblaut. Ohlsberg nickte. Er versuchte sogar zulächeln, aber das gelang ihm dann doch nicht. Er war niemand, der Erfahrung darin hatte, zu schauspielern. Und Liz war ziemlich sicher, daß er zum ersten Mal im Leben in einer Situation wie dieser war. »Bitte«, fügte Stefan hinzu, als Ohlsberg sich zwar umwandte, dann aber noch einmal zögerte, das Zimmer zu verlassen. Liz hatte das sehr sichere Gefühl, daß er noch etwas sagen wollte - und daß es wichtig war - aber dann seufzte er nur, tippte zum Abschied gegen den Rand seiner Mütze und verließ die Küche. Liz hörte seine Schritte draußen auf den hölzernen Dielen poltern; wenige Augenblicke später fiel die Haustür lautstark ins Schloß, und fast im gleichen Moment begann Carry schrill und drohend zu kläffen.
»Ist der Hund angekettet?« fragte Stefan.
Peter nickte. »Ja. Da kann nichts passieren.«
»Schade«, fauchte Liz, obwohl sie wußte, wie albern sie sich benahm, »ich hätte nichts dagegen, wenn er diese malten Idioten kräftig in den Arsch beißt.«
Stefan seufzte. »Das war... ein bißchen übertrieben, findest du nicht?« sagte er. »Du hättest ihm eine Chance geben sollen.«
»Eine Chance?« fauchte Liz. »Wozu?«
»Zu erklären, warum er hier ist.«
»Wer sagt, daß mich das interessiert?« schnappte Liz. Sie nahm ihre Kaffeetasse, trank einen Schluck und mußte plötzlich mit aller Macht gegen das Bedürfnis ankämpfen, sie gegen die Wand zu werfen. Es war absurd, aber es tat ihr fast leid, daß Ohlsberg so schnell aufgegeben hatte. Innerlich tobte sie noch immer vor Wut, aber es war niemand mehr da, an dem sie diese Wut auslassen konnte.
Stefan blickte sie vorwurfsvoll an, seufzte wieder und schüttelte den Kopf. »Wir sollten später darüber reden«, sagte er. »In aller Ruhe. Im Moment sind wir wahrscheinlich beide nicht in der richtigen Verfassung dazu.«
Liz starrte ihn an. Der Wunsch, ihren Kaffee zu nehmen und ihm ins Gesicht zu schütten, wurde fast übermächtig. Aber zugleich spürte sie auch, daß dieser Wunsch nicht aus ihr selbst kam, sondern ihr eingegeben wurde, ein böses, unhörbares Flüstern, das aus den Wänden, dem Boden und der Decke drang.
Natürlich tat sie es nicht. Stefan hatte recht - sie waren beide übermüdet und reizbar, und vermutlich würde sie jedes weitere Wort, das sie jetzt noch sprach, bedauern. Aber das war ihr egal. Sie war zornig, sie war übermüdet, und sie hatte mehr Angst denn je, und da war ihr Ohlsberg gerade recht gekommen, um ihr als Fußabstreifer zu dienen. Alles, was ihr ein bißchen leid tat, war der Umstand, daß auch diese Runde ihres kleines Privatkrieges wieder einmal zu Peters Lasten ging - aber, wie gesagt, nur ein bißchen. Trotzdem drehte sie sich um, nachdem sie die geschlossene Tür hinter Ohlsberg noch eine Weile voller Feindseligkeit angestarrt hatte, sah auf Peter herab und machte schließlich wieder diese knappe, befehlende Geste, die sich - auch das wurde ihr voller plötzlichem Schrecken klar - nur sehr wenig von Ohlsbergs Art unterschied, mit Heyning umzugehen.
»Es ist gut, Peter«, sagte sie knapp. »Sie können gehen.«
Peter stand so rasch auf, daß er um ein Haar seinen Stuhl umgeworfen hätte, aber Liz rief ihn noch einmal zurück, ehe er die Tür erreichte.
»Mein Mann und ich werden heute vermutlich ein wenig länger schlafen«, sagte sie. »Sie sehen ja selbst, daß es spät geworden ist. Seien Sie also so nett und machen sich selbst etwas zu essen, ja? Die Küche steht Ihnen zur Verfügung.«
Peter nickte nervös, sagte aber immer noch nichts, sondern wartete einige weitere Sekunden ab und entfernte sich schließlich. Für einen kurzen Augenblick wurde es sehr still in der kleinen Küche, bis Stefan neben sie trat und sich ebenfalls eine Tasse Kaffee eingoß; langsam und mit den übertrieben präzisen Bewegungen eines Menschen, der an der Grenze seiner Kraft angelangt ist. Eingedenk dieses Umstandes war seine Stimme sehr ruhig, als er schließlich sprach.
»Das war übertrieben, findest du, nicht?« Gerade sein ruhiger Ton reizte Liz noch mehr. Zornig funkelte sie ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an, sagte aber kein Wort, sondern zog nur die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel ein ganz klein wenig herab; eine Mimik, von der sie wußte, daß sie ihn mehr verletzte als alles andere. Wenn Stefan irgend etwas auf der Welt haßte, dann war es Überheblichkeit. Es funktionierte auch jetzt. Irgend etwas in Stefans Blick erlosch; mit einem übertrieben heftigen Ruck stellte er die Tasse zurück auf die Anrichte, drehte sich auf dem Absatz herum und stiefelte aus der Küche. Liz wartete darauf, daßer die Tür hinter sich zuwarf, aber natürlich tat er das nicht. Gott, wenn er doch nicht immer so verdammt beherrscht gewesen wäre! Warum konnte er nicht einfach einmal aus der Haut fahren und toben und Gift und Galle spucken wie ein ganz normaler Mensch?! Wütend schaltete sie die Kaffeemaschine aus, verließ die Küche und blieb im Korridor stehen. Sie war müde. Der Kaffee hatte sie nicht wacher gemacht, er hatte nicht einmal den schlechten Geschmack aus ihrem Mund vertrieben, und wenn sie den Kopf zu schnell bewegte, begann sich alles um sie herum zu drehen, und das Haus schien zu schwanken wie ein Boot auf stürmischer See. Trotzdem kam ihr der Gedanke einfach unvorstellbar vor, jetzt hin aufzugehen und sich neben ihn ins Bett zu legen, als wäre nichts passiert.
Sie starrte die Tür zu Peters Zimmer an - trotz ihrer Müdigkeit war es eine ganz normale, vom Alter gezeichnete Tür, nichts Lebendiges - und überlegte einen Moment, ob sie noch einmal zu ihm gehen und sich beim ihm entschuldigen sollte. Eigentlich wäre sie es ihm schuldig gewesen.
Aber eigentlich hatte sie es auch allmählich satt, sich ständig bei Gott und der Welt entschuldigen zu sollen, nur weil dieser Mistkerl von Ohlsberg sich ununterbrochen in ihr Leben mischte.
Sie würde etwas gegen ihn tun müssen, überlegte sie, während sie langsam die Treppe hin aufstieg. Bald.
Und sehr gründlich.
19.
Sie fanden in dieser Nacht beide nicht mehr viel Schlaf, aber Liz hatte sich auch den ganzen Tag über nicht aus dem Haus gerührt, und Stefan hatte mit Argusaugen darüber gewacht, daß sie nicht mehr als das Aller notwendigste tat.
Zu ihrer eigenen Verblüffung hatte sie sich eingestehen müssen, daß er ihr die Szene vom Morgen nicht halb so übelnahm, wie sie erwartet hatte. Nach allem, was bisher geschehen war, hatte sie ganz instinktiv angenommen, das er Ohlsbergs Partei ergreifen würde, zumindest hinterher, wenn sie allein waren. Sie hatte damit gerechnet, daß er sie zur Rede stellen und vielleicht sogar einen Streit vom Zaun brechen würde - aber er hatte es nicht getan.
Vielleicht war auch seine Geduld erschöpft, und möglicherweise ging auch ihm Ohlsbergs Verhalten entschieden über die Hutschnur. Vielleicht hatte er auch einen anderen Grund, aber gleich, warum: er hatte nicht ein einziges vorwurfsvolles Wort verloren; nicht einmal einen Blick. Und Stefan war nie ein guter Schauspieler gewesen. Sie hätte es gespürt, wenn er sich nur verstellt hätte. Seine Sorge war echt. Sie hatten sich beinahe gestritten, als sie am späten Nachmittag in die Küche gegangen war und mit Vorbereitungen für das Abendessen begonnen hatte, und sie hatte Stefan fast mit Gewalt vom Herd weg zerren müssen - was allerdings angesichts seiner Kochkünste purer Selbstverteidigung gleichkam.