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Aber immerhin - sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt, Zeit genug, sich darüber klar zu werden, daß sie nicht weiter tatenlos herum sitzen und abwarten konnte, was als nächstes geschah. Sie wußte, daß Stefan ihr nicht glaubte, auch wenn er sich alle erdenkliche Mühe gab, den gegenteiligen Anschein zu erwecken. Und wie konnte er auch? Alles, was er gesehen hatte, waren eine hysterische Frau und ein Glas, das sich zugegebenermaßen scheinbar von selbst bewegt hatte - aber dafür ließen sich ein halbes Dutzend Erklärungen finden, und jede einzelne davon war mindestens ebenso logisch und überzeugend wie das Wirken von Geistern.

Nein, sie mußte etwas unternehmen. Sie mußte endlich anfangen, sich zu wehren - und dieser alte Idiot Ohlsberg erschien ihr da gerade der richtige, um einen Anfang zumachen.

Sie war mittlerweile fest davon überzeugt, daß es ganz und gar kein Zufall gewesen war, daß sie ihn hier überraschten. Wenn man einmal bereit war, die Existenz eines unsichtbaren Was-auch-immer zu akzeptieren, das über diesen Hof wachte, dann war alles ganz einfach: Stefan und sie - vor allem sie! - waren zurückgerufen worden. Sie hatte das Gefühl der Bedrohung ja über deutlich gespürt, als sie sich dem Hof genähert hatten, und nicht nur sie allein, sondern auch Stefan. Sie hatten nur nicht begriffen, daß nicht sie es waren, denen diese Bedrohung galt, sondern das Haus selbst. Aus irgendeinem Grund, den sie jetzt noch nicht zuerkennen vermochte, fühlte sich das Haus von Ohlsberg bedroht, und es hatte sie zu Hilfe gerufen. Ja - so absurd es klang, ganz genau so mußte es gewesen sein.

Das Abendessen verlief in gedrückter Stimmung, die sicherlich auch mit ihrer Übermüdung zusammenhing - sie hatten beide eine Nacht ohne Schlaf hinter sich. Sowohl Stefan als auch sie selbst vermieden es in stummer Übereinkunft, irgend etwas zur Sprache zu bringen, was mit dem Zwischenfall vom Morgen in Zusammenhang stehen konnte.

Als sie fertig gegessen hatten und Liz damit begann, das schmutzige Geschirr zusammenzuräumen, stand Stefan wortlos auf und ging auf sein Zimmer, um noch zu arbeiten. Seit sie hier hergezogen waren, hatte er sich abgewöhnt, abends und nachts zu schreiben, und es war das erste Mal seit Monaten, daß er nach dem Abendessen noch einmal an seine Schreibmaschine ging. Vermutlich wollte er allein sein, sonst nichts. Und Liz war ihm nicht einmal böse; im Gegenteil. Sie verstand ihn. Sie verstand ihn nur zu gut.

Sie wartete, bis das Poltern und Stuhl scharren über ihrem Kopf aufgehört hatte und von einem gedämpften Klappernder Schreibmaschine abgelöst wurde, ehe sie das Geschirr in die Spülmaschine stopfte und noch einmal aus dem Haus ging. Es war kühl geworden, und Liz spürte alle Anzeichen vollkommener Übermüdung: zu dem schlechten Geschmack auf ihrer Zunge und den grauen Schlieren vor den Augen kam jetzt auch noch Kälte. Sie fror, und wenn sie den Fehler beging, sich zu schnell zu bewegen, wurde ihr schwindelig.

Sie blieb noch einmal stehen, kehrte nach einem raschen Blick in den Himmel ins Haus zurück und zog ihre Windjacke über, ehe sie zur Scheune ging. Peter war ihr und Stefan den ganzen Tag über aus dem Weg gegangen, was zwar verständlich war, ihr schlechtes Gewissen aber noch mehr schürte - und sie hatte noch einen anderen Grund, mit ihm zu reden. Eine eher vage Idee bisher, die sie selbst noch nicht ganz ausformuliert hatte - aber sie spürte, daß sie auf dem richtigen Weg war. Sie glaubte zumindest, eine Möglichkeit gefunden zu haben, Ohlsberg empfindlich zutreffen - und zwar mit Peters Hilfe. Aber sie mußte behutsam vorgehen.

Zu ihrer Enttäuschung war Peter nicht in der Scheune. Sie hatte in seinem Zimmer nach ihm gesucht und automatisch angenommen, ihn über dem auseinandergenommenen Traktor vorzufinden, nachdem sie ihn dort nicht angetroffen hatte. Aber die Scheune war leer.

Sie verließ das Gebäude, blieb einen Moment unschlüssig stehen und ging schließlich um das Haus herum. Der Wind schlug ihr kalt ins Gesicht, und die Farben kamen ihr allesamt gedämpfter und matter vor, als sie sie in Erinnerung hatte; und nicht nur sie, sondern auch die Geräusche. Natürlich war dieser Eindruck falsch - es war ihre eigene Müdigkeit, die sie die Dinge allesamt feindseliger und abweisender erkennen ließ, als sie in Wahrheit waren. Eversmoor war wie immer und wenn sich hier überhaupt etwas verändert hatte, dann aller höchstens sie. Nein - das einzig Vernünftige wäre wirklich, wenn sie den Nachmittag Nachmittag und Gott einen guten Mann sein ließ und sich ins Bett legte, um erst einmal achtzehn Stunden hintereinander durchzuschlafen - ein todsicheres Rezept, um die Welt hinterher viel freundlicher aussehen zu lassen. Aber sie wäre kaum sie selbst gewesen, wenn sie auf irgendwelche Vernunftsgründe gehört hätte; nicht in einer Situation wie dieser und an einem Tag wie heute. Sie suchte nicht weiter nach Peter, aber sie ging auch nicht ins Haus zurück, sondern öffnete nach kurzem Zögern - und fast ohne selbst zu wissen, warum eigentlich - die Hintertür und betrat den rückwärtigen Teil des Hauses. Die Tür knarrte in den Angeln und klemmte im hinteren Drittel, aber der Spalt war breit genug, daß sie sich hin durchzwängen konnte.

Draußen war es trotz der vorgerückten Stunde noch taghell - immerhin war es Ende Mai -, und trotzdem war es ein Schritt zurück in die Dämmerung, denn die wenigen Fenster waren allesamt klein und außerdem vor dreißig Jahren zum letzten Mal geputzt worden. Das bißchen Licht, das die blinden Scheiben durch ließen, war grau und schien aus Blei gegossen zu sein - der Vergleich erschien ihr selbst absurd, aber das Wort drängte sich ihr mit solcher Macht auf, daß sie es einfach benutzen mußte. Trotzdem hatte sie keinerlei Schwierigkeiten, sich zu orientieren - sie war oft genug hier gewesen, und nichts hatte sich verändert, seit sie den Hof gekauft hatten; so, wie hier wahrscheinlich seit drei oder vier Jahrzehnten alles unverändert geblieben war. Sie hatten dort mit den Renovierungsarbeiten begonnen, wo die Vorbesitzer der Farm bei ihrem überhasteten Aufbruch aufgehört hatten, und die hinteren, stärker verfallenen Teile des Wohnhauses gehörten nicht dazu. Dabei, dachte sie wehmütig, lagen hier eigentlich die schöneren Räume - ein halbes Dutzend unterschiedlich großer, auf zwei ineinander greifenden Ebenen angelegter Zimmer; eine Architektur, die ihr heute ebenso überraschend modern und zeitgemäß erschien wie am ersten Tag, als sie sie gesehen hatte. Hier war jetzt alles voller Staub und Schmutz und altem Gerümpel, und trotzdem glaubte sie noch etwas von der Lebendigkeit zu spüren, die diesen Räumen einst innegewohnt hatte.

Sie hatte sich schon oft gefragt, wie das Haus wohl in seiner Blütezeit ausgesehen haben mochte - nicht nur der kleine, vordere Teil des Hauses, den sie bewohnten, sondern das gesamte Gut -, aber seltsamerweise gelang es ihr nicht, das Gebäude in ihrer Vorstellung zu rekonstruieren. Aber sie war sicher, daß es sehr schön gewesen sein mußte, ein Heim, in dem man glücklich und geborgen sein konnte.

Vielleicht würde es eines Tages wieder dazu werden, wenn es Stefan und ihr gelang, es wieder zum Leben zu erwecken.

Aber nein, das stimmte ja gar nicht - sie mußten hier nichts zum Leben erwecken, denn dieses Haus war nicht tot. Selbst hier, wo sich seit einer Generation allenfalls noch Ratten und Spinnen herum trieben, spürte sie das Leben, das dieses Haus erfüllte. Liz lächelte. Es war sonderbar, welche Gedanken einem durch den Kopf schossen, wenn man nur müde genug war.Was für ein Unsinn!

Und doch kam er wahrscheinlich nicht von ungefähr. Sie fühlte sich immer sonderbar, wenn sie hier war, und sie hatte sich vom ersten Tag an von diesem Teil des Gutes sehr viel stärker angezogen gefühlt als von Stefans und ihrem Reich. Wahrscheinlich gab es sogar eine durchaus rationale Erklärung dafür - das heruntergekommene Haus hatte etwas von verbotenem Terrain, etwas von Gefahr und Unentdeckte man sich; es war das Kind in ihr, die romantische Schwärmerin, die niemals erwachsen werden würde, die die vergammelte Ruine liebte.