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Und trotzdem ...

Dieser Teil des Gutes war faszinierend, was sicherlich auch an der Zeit lag, aus der er stammte: Die Menschen hier hatten damals meist kleine, verwinkelte Zimmer gebaut, winzige Räume mit Fenstern, die kaum mehr als Schießscharten waren, und die Häuser waren niedrig und buckelig gewesen, dämmerige Höhlen, Festungen gleich, in denen sie sich vor den Unbillen der Natur verkriechen konnten. Häuser, wie sie sie in Schwarzenmoor gesehen hatte und bei deren Anblick sie zu frieren begann. Aber wenn sie sich einmal entschlossen hatten, ein Haus groß anzulegen, dann war es wirklich groß geworden.

Ja, sie verstand, daß Stefan eifersüchtig über diesen Teil des Hauses wachte und ihn für sich beanspruchte. Dieser Raum hier zum Beispieclass="underline" Sie wußte nicht einmal, welchem Zweck er ursprünglich gedient hatte - es mußte eine Art Gemeinschaftsraum gewesen sein, ein Eßzimmer vielleicht oder eine Stube für alle Tage, in der die Bauern mit ihren Knechten beisammen sitzen und reden konnten - gute fünfzehn Meter lang, vielleicht acht Meter breit und trotz der kleinen Fenster überraschend hell - wenigstens würde er es irgendwann einmal sein, wenn das Glas in den Fenstern wieder durchsichtig war. Wenn er renoviert wäre, würde er wirklich ein phantastisches Studio abgeben. An der zerbröckelnden Decke waren noch die Reste einer einstmals sicherlich kostbaren Stuckarbeit zu erkennen, und die Wände strahlten mit ihrem groben Fachwerk, das hier und da durch den Schmutz lugte, rustikale Gemütlichkeit aus.

Im Zentrum des Raumes stand das, was von einem großen, hölzernen Tisch übriggeblieben war. Die Beine waren auf einer Seite weggebrochen, die Platte stark geneigt und gerissen. Sie trat heran, betrachtete den Tisch eingehend und fuhr mit den Fingerspitzen über das alte, mürbe Holz. Seltsamerweise fühlte es sich glatt und trocken an, obwohl das Haus von Feuchtigkeit durchdrungen und Tür- und Fensterrahmen überall auf gequollen und verzogen waren.

Vielleicht lag es einfach an dem Holz, aus dem die Platte gefertigt war, überlegte sie. Sie ging in die Hocke, fühlte noch einmal über die seltsam glatte, zeitlose Oberfläche der Tafel. Seltsam - es lag überhaupt kein Staub darauf. Obwohl die Wände, der Schutt, die verzogenen Fenster mit ihren gerissenen Scheiben das Alter dieses Zimmers regelrecht hinaus schrien, war die Platte so sauber, als wäre sie erst vor wenigen Minuten gewischt worden. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sich sogar einbilden, noch die Spuren von Gläsern und Geschirr darauf zu erkennen. Was natürlich Unsinn war.

Sie stand auf, schüttelte den Kopf und blinzelte verstört. Sie fröstelte. Etwas... sehr Seltsames lag plötzlich in der Luft. Mit einem Male hatte sich ein Teil der Wirklichkeit verändert, verwandelt, ohne daß sich auch nur ein Stäubchen bewegt hatte. Etwas in der Atmosphäre des Hauses hatte sich geändert; eine spürbare Verschiebung vom Toten zu jener unsichtbaren Grenze des Belebten, Atmenden hin. Plötzlich spürte sie sein Alter, die ungezählten Jahre des Lebens, die wie dünne Spinnweben in der Luft hingen. Ein Satz fiel ihr ein, den Stefan einmal gesagt hatte, gleich am Anfang, als sie gerade hier hergekommen waren: Dieses Haus besaß Geschichte, lebendige, pulsierende Geschichte, keine leblose Historie, etwas, das eng mit den Schicksalen seiner einstmaligen Bewohner verknüpft war. Damals hatte sie nicht verstanden, was er wirklich damit gemeint hatte - aber es war die Wahrheit. Dieses Haus war mehr als ein Haus, es war ein Zuhause.

Eigentlich, dachte sie, müßte sie von hier aus die Ruine des Gesindehauses sehen können. Sie stand wieder aus der Hocke auf, stieg über einen herabgefallenen Balken, setzte vorsichtig den Fuß zwischen Bergen von Schutt und Abfall auf und ging an das große Fenster an der Südseite. Es war vernagelt, aber wie alles in diesem Teil des Hauses waren auch die Bretter Opfer der Zeit geworden. Sonnenlicht drang in schrägen Bahnen durch fingerbreite Risse; und schon ein halbherziger Stoß mit der flachen Hand ließ sie vollends herausbrechen. Das Geräusch, mit dem die morschen Bretter zu Boden polterten, schien seltsam laut und störend zu sein.Falsch. Nichts hier war so, wie es sollte. Sie kam sich vor, als hätte sie sich in ein surrealistisches Bild verirrt.

Aber sie hatte recht gehabt. Zumindest ihr Orientierungssinn funktionierte noch: Die verkohlte Ruine lag beinahe zum Greifen nahe vor ihr. Einem plötzlichen Impuls folgend, drehte sie sich um, verließ das Haus und steuerte die Ruine an.

Seltsam - sie war in all den Monaten niemals auf die Idee gekommen, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Bisher hatte es für sie dort außer ein paar verkohlten Balken und rußgeschwärzten Steinen nichts zu sehen gegeben. Dabei hatte sie sich in Gedanken oft genug mit ihr beschäftigt - aber eben nur mit ihrer Geschichte, nicht mit den Steinen, aus denen sie errichtet worden war. Warum auch?

Sie überquerte den Hof und stieg über die kniehohe, zerfallene Wand, die von der ehemaligen Außenmauer stehen geblieben war. Eigentlich sollte sie Angst vor diesem Gebäude haben, dachte sie. Nach allem, was sie erlebt hatte, sollte sie im Grunde die Nase voll haben von allem, was irgendwie geheimnisvoll oder gefährlich war. Ja, sie sollte Angst haben. Aber sie hatte keine; ganz im Gegenteil. Es war beinahe, als würde sie irgend etwas an dem verfallenen Gemäuer anziehen. Inmitten der Trümmer stand ein Mann.

Jedenfalls glaubte sie es für einen Moment. Für die Dauer eines Lidzuckens sah sie die Gestalt deutlich vor sich: Ein kleiner, untersetzter Mann, massig und in dunkler, grober Arbeitskleidung, das Gesicht eine verwirrende Plastik aus Runzeln und tief eingegrabenen Falten, Hände wie Schaufeln, die lose zu beiden Seiten des Körpers pendelten. Ohlsberg.

Ohlsberg?!

Dann war die Vision verschwunden.

Sie blieb wie angewurzelt stehen; verwirrt, erschrocken und ein wenig - nicht sehr, nur ein wenig - ängstlich. Sie wußte nicht, was sie mehr erschreckte - die Tatsache seines Hierseins oder die Art, auf die er verschwunden war. Es war unmöglich, daß der Mann so schnell verschwand. Aber es war auch unmöglich, daß... Sie schloß die Augen, ballte die Faust und biß sich auf die Knöchel. Mit einem Mal begann sie haltlos zu zittern.

Mach dich nicht selbst verrückt! hämmerten ihre Gedanken. Es ist unmöglich! Unmöglich! Deine Nerven spielen dir einen Streich!

Natürlich. Das war die Erklärung. Das mußte sie sein. Der Tag hatte sie nicht so ungeschoren gelassen, wie sie Stefan gegenüber vorgegeben hatte. Sie war müde, überreizt, nervös. In diesem Zustand konnte sie in den dunklen Schatten zwischen den durcheinander liegenden Balken und Steintrümmern alles mögliche erkennen. Aber sie hatte seinen Blick auf sich gefühlt.

Ohlsbergs Blick...

Sie atmete tief durch, versuchte, die Gespenster, die aus ihrem Unterbewußtsein emporgestiegen waren, dorthin zurückzudrängen, wo sie hingehörten. Die kühle, sauerstoffreiche Luft und die Anstrengung halfen ihr. Es war der gleiche Trick, mit dem sie die Angst schon einmal besiegt hatte:Stell dich der Bedrohung, und überzeuge dich selbst davon, daß es nichts gibt, vor dem du Angst haben mußt. Und es funktionierte auch diesmal.

Mit einer fast zornigen Bewegung trat sie vor und musterte das, was von dem ehemaligen Gesindehaus übriggeblieben war. Es war ein relativ kleines, eingeschossiges Haus gewesen, bestehend aus einem einzigen Raum; jedenfalls gab es keine Spuren einer einstigen Unterteilung, und wenn es welche gegeben hatte, hatte die Zeit sie längst getilgt.