Die Zerstörung war total. Ein Teil des Dachstuhl es war niedergebrochen, während oder kurz nach dem Feuer, und an einer Stelle war sogar das Fundament unter der Wucht der nieder krachenden Balken eingebrochen. Ein dunkles, gezacktes Loch gähnte im Boden. Ein Keller. Sie hatte gar nicht gewußt, daß das Haus einen Keller hatte. Neugierig - aber auch von einer noch vagen Furcht erfüllt, beugte sich vor und lugte in die Tiefe.
Sie wußte nicht genau, was sie erwartet hatte - vermutlich nichts -, aber unter ihr war etwas. Sie wußte nicht, was, und sie war nicht einmal sicher, daß es wirklich da war; aber für einen unendlich kurzen Moment glaubte sie... etwas zu erkennen. Etwas Großes. Glitzerndes. Etwas wie der Panzer eines titanischen schwarzen Insektes, das sich da in der Tiefe unter dem Hof bewegte, sich schabend an Felsen und weichem Erdboden rieb und... Der Boden knarrte ganz leise. Ein sanftes, aber deutliches Zittern lief durch die morschen Bretter. Die Illusion verging, und sie begriff, daßes nur ihre eigene Angst war, die sie sah und hörte; und daß sie sich ziemlich leichtsinnig benahm. Das gezackte Loch im Boden vor ihr bewies, wie morsch die uralten Dielenbretter waren. Auch wenn dort unten keine Alptraummonster darauf warteten, sie zu verspeisen, war es vielleicht alles andere als ratsam, kopfüber in die Tiefe zu stürzen. Behutsam richtete sie sich wieder auf, trat zwei, drei Schritte zurück und betrachtete neugierig die schwarze, an Holzkohle erinnernde Oberfläche eines verbrannten Balkens. Prüfend fuhr sie mit den Fingerspitzen darüber.
Das Holz war warm.
Sie fuhr erschrocken zurück und betrachtete ihre Hand. An ihren Fingerspitzen klebte Ruß.
Sie zögerte einen Moment, legte die ganze Hand auf den Balken und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was ihr die Nerven enden in ihrer Haut signalisierten. Das Holz war warm, aber es war nicht gespeicherte Sonnen wärme, die sie fühlte, sondern eine andere, viel direktere, brennende Hitze. Es schien, als wäre unter der rissigen, zu Holzkohle verbrannten Oberfläche des Balkens noch immer jene höllische Glut zu finden, die dieses Gebäude vernichtet hatte, als wäre das Haus erst in der vorangegangenen Nacht niedergebrannt und nicht vor dreißig Jahren. Sie zog abermals die Hand zurück. Dicker, schmieriger Ruß klebte an ihrer Handfläche, und auf dem Balken waren deutlich die Abdrücke ihrer Finger zu erkennen, all den Jahren des Windes und Regens zum Trotz, die darüber hinweggegangen waren.
Aber das war doch ... unmöglich! dachte sie. Das konnte nicht sein! Sie spürte, wie Hysterie das kalte Erschrecken in ihr zu verdrängen begann, und diesmal war sie hilflos dagegen. Eine blitzartige Vision stieg in ihr auf. Sie sah noch einmal den Schatten des Hauses, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hatte, das helle Licht hinter den Fenstern, das plötzlich zu greller, vernichtender Glut erwachte und mit ungeheurer Schnelligkeit wie ein kleines, feuriges Tier auf den Dachstuhl und die Balken übergriff, das strohgedeckte Dach ergriff und das Haus in Sekunden in eine lohende, Fackel verwandelte.
Das Geräusch von Schritten ließ sie erschrocken herumfahren. Sie schlug die Hand vor den Mund, spürte, wie sich ihre Muskeln fast ohne ihr Zutun spannten, bereit zu Flucht oder Kampf, je nachdem, was da hinter ihr aufgetaucht sein mochte. Aber es war nur Heyning. Er war aus dem Haus gekommen und mußte sie gesehen haben. »Peter!« stöhnte sie erleichtert. »Sie sind es!«
Peter musterte sie verwirrt. Ein bißchen von dem Schrecken war noch immer in seinem Blick, aber sie glaubte auch ein Wissen darin zu erkennen, das ihr nicht gefiel. Das ihr angst machte. Und er war eindeutig erschrocken, sie hier zu sehen.
»Sie... Sie sollten nicht hier sein, Ma'am«, sagte er mit seiner leisen, wie immer etwas verschüchtert klingenden Stimme. »Es ist gefährlich.«
»Gefährlich?« Liz mußte sich beherrschen, um nicht hysterisch aufzulachen. Was erzählte er ihr?
»Alte Häuser sind immer gefährlich«, sagte Peter. »Es kann immer etwas zusammenstürzen. Oder der Boden bricht ein. Hier ist alles morsch. Sie sollten nicht hier herkommen.«
Liz legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den stehengebliebenen Sparren empor, die schwarz wie ein verkohltes Gerippe in den Himmel aufragten. Oder wie eine Kralle,dachte sie. Eine riesige, bizarre, dünn fingrige Kralle, die sich auf sie her absenken wollte.
»Sagen Sie, Peter«, begann sie, weniger aus wirklichem Interesse als vielmehr, um das plötzliche Schweigen durch den Klang einer menschlichen Stimme zu vertreiben, »wie ist es eigentlich damals zu dem Feuer gekommen? Es muß ziemlich schlimm gewesen sein? Wurde jemand getötet?« Es fiel ihr schwer, ruhig zu sprechen. Ihre Hände zitterten.
»Ich... ich weiß es nicht. Ich war damals noch ein Kind«, erinnerte Peter. »Ich war nicht einmal sechs Jahre alt.« Er wich aus, wie immer. Und wie immer glaubte sie zu spüren, daß er mehr wußte, als er zugab. Aber diesmal würde sie sich nicht abspeisen lassen. Sie wollte endlich wissen, was hier gespielt wurde. Sie mußte es wissen, wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte.
»Hätten Sie nicht Lust, das Haus wieder aufzubauen?« fragte sie. Sie sah, wie er erbleichte, zusammen zuckte. »Es wäre doch sicher schön, ein ganzes Haus nur für Sie - und Ihre Tochter.« Natürlich redete sie Unsinn, und sie wußten es beide. Aber sie plapperte einfach weiter, auch wenn ihr mit schmerzhafter Deutlichkeit zu Bewußtsein kam, daß Peter den Grund dafür sehr genau kannte - es war kein anderer, aus dem sie mit zehn Jahren stets laut gepfiffen oder gesungen hatte, wenn sie allein in den Keller ging. Sie hatte schlichtweg Angst. »Das Material besorgen wir schon irgendwoher. Es liegt genug Kram auf dem Hof herum. Und den Rest kaufen wir nach und nach. Sie müssen es nur selbst aufbauen.« Sie lachte, leise und nervös. »Nun, was halten Sie davon?«
Heyning begann verlegen mit der Schaufel zu spielen, die er über der Schulter getragen hatte. Liz bemerkte sie erst jetzt, und sie fragte sich, was er wohl umgegraben haben mochte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich ... finde mein Zimmer sehr schön ...«, stotterte er. »Es ist größer als das, das ich vorher hatte. Es reicht mir. Ich brauche nicht viel Platz.«
Liz wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. »Unsinn«, sagte sie barsch. »Ein winziges Zimmer ist nichts für einen erwachsenen Mann. Jeder braucht ein bißchen Privatsphäre, und nicht ein Zimmer hinter der Küche, das zu klein ist, um sich darin um zudrehen.« Sie machte eine bestimmte Geste, als Peter abermals widersprechen wollte, und er wagte es nicht.
»Es muß ja nicht gleich ein ganzes Haus sein«, fügte sie hinzu. »Aber wir sollten eine Lösung finden - schon, falls Ihre Tochter einmal zu Besuch kommen sollte.« Sie lächelte. »Andy ist kein Säugling mehr, den man in einem Korb neben den Ofen legen kann. Das Mädchen braucht ein eigenes Zimmer. Und Sie auch.«
»Mir gefällt mein Zimmer«, beharrte Peter. »Große Zimmer machen nur Arbeit.« Liz seufzte. Sie kannte Heyning noch nicht lange, aber immerhin lange genug, um zu wissen, daß es keinen Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Vielleicht später... Sie mußte ihm Zeit geben. Und sie durfte nicht zu viel von ihm verlangen. Sie gab sich einen Ruck, ging zum Haus zurück und suchte nach Stefan.
20.
Er war in seinem Arbeitszimmer. Das monotone Rattern seiner Schreibmaschine empfing sie bereits auf der Treppe, untermalt vom dumpf dröhnenden Baß seiner Kopfhörer, die er wie üblich bis dicht an die Schmerzgrenze hin aufgedreht haben mußte. Liz blieb einen Moment unschlüssig vor der Tür stehen, ehe sie anklopfte und eintrat, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie bezweifelte, daß er das Klopfen hörte - aber Stefan haßte es, wenn er während der Arbeit gestört wurde, und er reagierte sehr aggressiv darauf, wenn sie sein Allerheiligstes unangemeldet betrat.