Sie preßte die Faust gegen den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Plötzlich spürte - nein: wußte sie, daß dort draußen etwas war, etwas Fremdes, anderes, das sie rief, auf sie wartete, lauerte ...
Es war nicht vorbei. Noch lange nicht.
Es begann gerade erst.
Hinter ihrer Stirn echote ein Wort: Banshee... Die Moorhexe ...
Es war nicht mehr bloß eine mehr oder weniger zufällige Zusammenreihung von Buchstaben. Es war Drohung, grausamer Spott und Hohn, die geflüsterte Warnung jener Stimme dort draußen.
Banshee... Man sagt, daß es keinen Körper hat, eine bloße körperlose Stimme ist... Aber wie kann eine Stimme gefährlich sein ...
Liz prallte vom Fenster zurück, schlug beide Hände gegen den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, und drehte sich zum Bett um. Stefan schlief. Sie konnte sein Gesicht nur als verschwommenen Fleck erkennen, aber sie spürte die tiefe Ruhe, die von ihm ausging. Er schlief sehr fest. Das lautlose Ding dort draußen - die Banshee - war nicht in seinen Traum gekrochen, und er würde sie auch dann nicht wahrnehmen, wenn Liz ihn weckte. Sie würde alles nur schlimmer machen, wenn sie es tat.
Sie versuchte krampfhaft, ihre Gedanken mit Gewalt in eine andere Richtung zu lenken, aber ihre Anstrengung bewirkte genau das Gegenteil. Der Klang des Wortes hinter ihren Augen wurde härter, bedrohlicher. Und plötzlich wußte sie, woher sie es kannte, weshalb es ihr im Unterbewußtsein so vertraut gewesen war und weshalb ihm der Geschmack von Angst und Bedrohung anhaftete.
Es war der Schrei. Jener körperlose, unhörbare Schrei, der sie vor drei Tagen geweckt hatte, der sie gestern nachmittagin einen Weinkrampf und den Hund in die Raserei getrieben hatte. Es war nicht einfach nur ein Laut gewesen, sondern dieses Wort. Banshee hatte es geschrien, leise, lang gezogen, mit dem drohenden, fremden Nachhall jener alten keltischen Sprache, aus der es stammte.
Irgendwo hinter ihrer Stirn lauerte ein Gedanke, angstvoll beiseite geschoben und vergraben, aber doch zu stark, daß sie ihn ganz verdrängen konnte: Werde ich verrückt? Wie zur Antwort auf ihre lautlose Frage begann Carry unten im Hof wieder zu bellen, aber diesmal nicht ängstlich, sondern böse, aggressiv.
Liz war eine tapfere Frau, und die Bedrohung, die von außen auf sie eindrang, verstärkte nur ihren Entschluß, das Rätsel zu lösen, sich dem Unbekannten zum Kampf zu stellen. Sie vertrieb die Furcht, ging wieder zum Fenster, beugte sich erneut vor, suchte die Hütte. Ihr Blick streifte die verkohlte Ruine des Gesindehauses, ihren Schatten.
Der Schatten!
Es war nicht der Schatten eines verkohlten Hausgerippes. Auf dem krumpeligen Lehm des Hofes zeichnete sich deutlich der breite, massige Schatten eines völlig intakten Gebäudes ab!
Aus ungläubig aufgerissenen Augen starrte sie auf die Erscheinung, dann auf die Ruine, die unverändert wie seit dreißig Jahren unter dem silbernen Mondschein lag, dann wieder auf den Boden davor. Es war unmöglich, und doch zeichnete sich dort unten der quadratische, langgestreckte Schatten des Gesindehauses ab, wie es vor dem Brand ausgesehen haben mochte: Flach, wuchtig, mit kleinen Unebenheiten am oberen Ende, wo die Reetbündel des Daches zusammengebunden waren, mit dem wuchtigen Aufsatz des Schornsteins. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sogar die etwas helleren Rechtecke der Fenster ausmachen.
Aber das war doch völlig unmöglich! dachte sie verwirrt. Dem ersten Schrecken und der Angst folgten Verblüffung und eine fast wissenschaftliche Neugier. Sie beugte sich noch weiter vor, fuhr sich mit der Hand über die Augen, blinzelte - aber das Bild blieb. Verwirrt wandte sie sich erneut zum Bett um, fest entschlossen, Stefan nun doch zu wecken. Selbst er würde ihr glauben müssen, wenn er das sah!
In diesem Moment hörte Carry auf zu bellen.
Einen Schritt vor dem Bett blieb sie stehen, zögerte einen Moment, drehte sich um, zögerte wieder - sie wußte, was sie sehen würde, aber sie hatte beinahe panische Angst davor. Alles in ihr schrie danach, die begonnene Bewegung zu Ende zu führen und Stefan zu wecken, ganz egal, was erdenken und sagen mochte. Er würde ihr nicht glauben - wie konnte er auch -, aber er würde ihr wenigstens zuhören, und er würde wenigstens so tun, als glaube er ihr, und manchmal war selbst eine Lüge leichter zu ertragen als die Wahrheit.
Aber natürlich tat sie es nicht.
Statt dessen trat sie mit halb geschlossenen Augen wieder ans Fenster und raffte ihr letztes bißchen Selbstbeherrschung zusammen, um auf den Hof hinabzublicken. Er war wie immer.
Carry hatte aufgehört zu bellen.
Der schauderhafte Gestank war nicht mehr da.
Der Wald im Westen war wieder zu einem ganz normalen Wald geworden. Und die Ruine war wieder eine Ruine. Der Schatten aus der Vergangenheit war verschwunden, hatte wahrscheinlich niemals irgendwo anders als in ihrer Einbildung existiert, und... und auf halbem Wege zwischen dem heruntergebrannten Haus und der Straße stand ein Mann.
Ohlsberg.
Er war viel zu weit entfernt, als daß sie sein Gesicht erkennen konnte; sie hätte es nicht einmal erkannt, wenn draußen heller Tag gewesen wäre.
Aber sie wußte, daß er es war.
Er stand da, eine kleine, gedrungene Gestalt, lautlos, schweigend und starrte zu ihr hinauf, ein Dämon, der dergleichen Dimension des Wahnsinns entsprungen war wie der höllische Gestank, der Schrei und die Schatten. Abermals machte sich Hysterie in Liz breit. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie umklammerte das Fensterbrett so fest, daß zwei Fingernägel ihrer rechten Hand abbrachen und Blut über das gesprungene Holz lief. Sie spürte den Schmerz, und er war sehr schlimm, aber sie reagierte nicht darauf, denn es schien mit einem Male zwei Arten der Wahrnehmung zu geben, zwei Wirklichkeiten, die nebeneinander und gleichzeitig existierten: In der einen stand sie hier und blickte auf einen völlig leeren Hof hinunter, und ihre Finger bluteten und taten entsetzlich weh, und sie war dabei, den Verstand zu verlieren.
In der anderen war alles wahr - der Schatten, Ohlsberg, das brennende Haus ... Dann wußte sie, was sie tun mußte.
Sie würde Stefan nicht wecken, denn sie wußte, daß er die Gestalt dort unten nicht sehen konnte - sie würde verschwinden, im gleichen Moment, in dem er neben sie trat, oder - schlimmer noch - dableiben, nur für sie sichtbar, aber Stefan würde sie nicht sehen, denn dies war einzig und allein ihr Kampf, ein kleiner privater Krieg, der nur zwischen diesem schmierigen alten Mann und ihr ausgetragen und entschieden werden konnte.
Aber er war da!
Langsam, die verletzte Hand fest gegen das Nachthemd gepreßt, um keine Blutflecken auf dem weißen Teppich zu hinterlassen, verließ sie den Raum, ging in Stefans Arbeitszimmer, schaltete die Schreibtischlampe ein und klappte das Notizbuch auf, das griffbereit neben dem Telefon lag. Ihre Finger hinterließen rote schmierige Spuren auf dem weißen Papier und gleich darauf auf der Wählscheibe des Telefons, als sie Ohlsbergs Nummer wählte.
Das Freizeichen ertönte; zwei -, drei -, vier -, fünfmal hintereinander. Aber es war drei Uhr, und sicherlich schlief Ohlsberg nicht neben dem Apparat. Einen Moment lang fragte sie sich, was sie sagen sollte, wenn nicht er, sondern seine Frau - war er verheiratet? Sie wußte es nicht - oder seine Haushälterin oder sonst wer ans Telefon gehen sollte, aber noch bevor die Frage vollends an ihr Bewußtsein gedrungen war, ertönte ein leises Klicken in der Leitung, und dann hörte sie Ohlsbergs Stimme, leise, verschlafen, ein wenig zornig und sehr benommen, aber ganz eindeutig seine Stimme. Seine Stimme.