Ohlsbergs Stimme, die in Ohlsbergs Apparat sprach, fünf Kilometer entfernt in seinem Haus in Schwarzenmoor, ganz eindeutig seine Stimme.
Die Stimme des gleichen Mannes, den sie vor weniger als zwei Minuten vor ihrem Haus hatte stehen sehen.
Liz starrte den Telefonhörer an, und plötzlich zitterten ihre Finger so stark, daß sie ihn kaum noch halten konnte. Der Schmerz in ihrer Hand wurde stärker. Blut lief über den Telefonhörer, an ihrem Handgelenk herunter und tropfte auf die aufgeschlagenen Seiten von Stefans Adreßbuch.
Aus dem Telefonhörer drang Ohlsbergs Stimme, nun schon ein wenig wacher - und ganz eindeutig aufgebrachter -, und vom Hof drang abermals Carrys Bellen herauf. Sie wußte, daß sie ihn wieder dort unten stehen sehen würde, wenn sie jetzt zurückging; den gleichen Mann, der am anderen Ende der Telefonleitung war, fünf Kilometer entfernt.
Mit einem Ruck hängte sie ein, fuhr herum und rannte aus dem Zimmer.
22.
Ihre Hand begann stärker zu schmerzen, während sie nach unten lief, und als sie in der Küche angekommen war und die zersplitterten Fingernägel im grellen Neonlicht zum ersten Mal genau betrachtete, wurde ihr übel - und natürlich tat es jetzt erst recht weh. Mit zusammengebissenen Zähnen wankte sie zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und hielt die verletzte Rechte unter den eiskalten Strahl, während sie mit der anderen Hand ungeschickt nach irgend etwas suchte, womit sie die Finger verbinden konnte. Sie hatten einen Verbandskasten im Jaguar, aber der stand draußen in der Scheune, und der Gedanke, jetzt nach draußen zu gehen, war so unvorstellbar, daß sie ihn nicht einmal zu Ende dachte.
Aber die Wunde hörte auch schon auf zu bluten; das eiskalte Wasser wirkte augenscheinlich Wunder, und es betäubte auch den Schmerz - und nicht nur ihn. Ihre Hand war bis zum Gelenk hinauf gefühllos. Sie nutzte diesen Umstand, sich einen improvisierten Verband in Form eines halbwegs sauberen Spültuches anzulegen, knotete die Tuchenden ungeschickt zusammen und drehte das Wasser ab. Dabei fiel ihr Blick in den beschlagenen Spiegel, der über dem Spülbecken hing.
Sie erschrak fast vor ihrem eigenen Spiegelbild, aber es wirkte auch gleichzeitig ernüchternd - so schlimm sie aussah, war doch nichts Gespenstisches an dem bleichen Gesicht das ihr aus dem Spiegel entgegen starrte. Sie war sehr bleich - es war eigentlich das erste Mal, daß sie jemanden sah, der wirklich weiß geworden war -, und unter ihren Augen lagen die dunklen Ringe, die man bei jemandem erwarten konnte, der praktisch die zweite Nacht ohne Schlaf war. Trotz ihrer Müdigkeit war sie erst gegen Mitternacht zu Bett gegangen, und die knapp drei Stunden, die sie bisher geschlafen hatte, hatten sie eher noch müder gemacht. Ihre Augen waren stumpf, und ihr Blick erinnerte sie selbst ein wenig an den einer Verrückten - er war wild und gehetzt, und es war ihr einfach nicht möglich, die Augen still zu halten -, aber alles in allem sah sie vielleicht überanstrengt und müde und krank aus - aber nicht sehr verrückt. Allenfalls ein bißchen wie ein abgestochenes Schwein, fügte sie in Gedanken spöttisch hinzu, denn ihre gesplitterten Fingernägel hatten heftig geblutet, so daß ihr weißes Neglige jetzt von einem gewaltigen roten Fleck verunziert war.
Sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus, trat vom Spülbecken zurück und überlegte, ob sie Kaffee aufbrühen oder einen Schnaps trinken sollte. Nach kurzem Zögern entschied sie sich für den Schnaps. Sie glaubte selbst kaum daran, daß es ihr in dieser Nacht noch gelang, Schlaf zu finden - aber der Versuch konnte kaum schaden. Wenn der Alkohol sie nicht müde machte, konnte sie immer noch auf Koffein zurückgreifen, um die Nacht irgendwie zu Überstehen.
Sie verließ die Küche, ging ins Wohnzimmer hinüber und trat an die Bar, ohne Licht zu machen. Durch die Fenster fiel silbernes Mond licht herein, so daß sie genug sehen konnte. Ein wenig wunderte sie sich, daß sie nach allem keine Angst vor der Dunkelheit hatte - aber die matt graue, schattenerfüllte Dämmerung, die sie umgab, kam ihr eher beschützend als feindselig vor.
In Anbetracht dessen, was gerade geschehen war, hatte sie überhaupt erstaunlich wenig Angst. Sie kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, daß sie sich guten Gewissens als tapfer bezeichnen konnte, aber trotzdem: Sie hätte Angst haben müssen. Jede andere an ihrer Stelle wäre spätestens indem Moment hysterisch geworden, in dem Ohlsberg in fünf Kilometern Entfernung den Telefonhörer abnahm.
Das genaue Gegenteil war der Fall. Liz fühlte sich von einer Ruhe erfüllt, die schon beinahe wieder unheimlich war. Sie begriff nicht, was Ohlsberg getan hatte, geschweige denn, wie, und sie versuchte es auch erst gar nicht.
Wie selbstverständlich hatte sie akzeptiert, daß er mit Mitteln kämpfte, die sie ihm nicht zugetraut hätte; möglicherweise war es wirklich so etwas wie Hexerei - warum nicht? Liz wäre die letzte, die sich weigerte, an Zauberei und Hexenkraft zu glauben; und vielleicht war Ohlsberg ein Hexer. Vielleicht war dies das Geheimnis seiner Macht.
Aber wenn, dann war er ein erbärmlicher Hexer.
Sie schenkte sich einen Whisky ein - hätte Stefan ihn gesehen, hätte er (zu Recht) behauptet, daß es sich wohl eher um drei Whiskys handelte -, schlenderte zur Stereoanlage und drehte vorsichtshalber die Lautstärkeregler herunter, ehe sie nacheinander den Verstärker und den flachen CD-Player einschaltete. Das blinkende Kontrollicht verriet ihr, daß eine Platte im Schacht lag - aller Wahrscheinlichkeit nach eine von Stefans Platten, aber das spielte im Moment keine Rolle. Sie wollte nur Musik, und es war ihr so ziemlich egal, was für welche. Sie drückte die ›Play‹-Taste, machte einen Schritt und blieb wieder stehen, als die Musik einsetzte und sie das Stück erkannte: The Number Of The Beast von Sinner. Zum Teufel - war das wirklich noch Zufall?! Sie seufzte, nahm einen gewaltigen Schluck aus ihrem Glas und spürte, wie die Wirkung fast sofort einsetzte; kein Wunder, bei ihrem Zustand. Aber schließlich war es genau das, was sie gewollt hatte.
Sie ließ die Platte laufen, pro stete dem Plattenspieler zu, setzte sich und trank einen weiteren Schluck.
Ohlsberg also.
Sie fühlte sich fast erleichtert, jetzt, als sie den Feind endlich erkannt hatte. Er hieß weder Nyarlathotep noch Dr. Mabuse, und er lebte auch nicht in einem verwunschenen See drüben im Wald, sondern in einem heruntergekommenen Haus fünf Kilometer entfernt von ihr.
Ohlsberg. Gut, möglicherweise war er ein Hexer, aber er war auch ein Mensch, und er konnte Fehler machen - er hatte mehrere gemacht, seit sie sich kennengelernt hatten, und sie konnte ihn schlagen, auch wenn es nicht leicht werden würde. Ohlsberg.
Liz trank einen weiteren Schluck, lächelte flüchtig und schloß die Augen. Ohlsberg. Wenn er Krieg haben wollte - okay, er konnte ihn bekommen. Sie hatte keine Angst. Nicht vor ihm. Angst hatte sie vor dem Ding im See gehabt und vor der Banshee, ehe sie erkannt hatte, daß beides nur Trugbilder gewesen waren, die ihr Ohlsberg geschickt hatte.
Vor ihm hatte sie keine Angst. Sie würde sich ihm stellen, und sie würde ihn besiegen. Stefan würde ihr dabei helfen und Peter und Andy, die...
Andy?
Warum dachte sie jetzt schon wieder an dieses Mädchen? Es war das dritte Mal daß ... Liz hätte um ein Haar aufgeschrien, als sie begriff. Es war ganz und gar kein Zufall, daß sie an Peters Tochter dachte, in diesem Zusammenhang. Die Lösung war so einfach, daß sie sich verblüfft fragte, warum sie sie nicht schon längst erkannt hatte. Ohlsberg selbst hatte ihr die Waffe geliefert, mit der sie ihn vielleicht schon beim ersten Angriff schlagen konnte. Liz lächelte, leerte ihr Glas mit einem Zug und stand auf, um es erneut zu füllen. Sie wankte, hielt sich einen Moment lang an der Sessel lehne fest und entschied, daß sie genug getrunken hatte; nicht genug, um zu vergessen oder einzuschlafen, aber genug, wenn sie am nächsten Tag wirklich noch tun wollte, was sie sich jetzt vornahm. Und sie wollte.