Sie hörte ihn schon von draußen in der Scheune hantieren, und als sie durch das Tor trat, steckte er wie üblich bis zu den Schultern unter der aufgeklappten Motorhaube. Eine flackernde Petroleumlampe hellte die Dämmerung auf, die sich hier drinnen noch ein wenig gehalten hatte, und schuf einen behaglichen Dom gelben Lichts in der Mitte des riesigen, halb verfallenen Raumes. Der Jaguar stand im hinteren Teil des Schuppens, und gegen den wuchtigen radlosen Traktor kam er Liz winzig und deplaciert vor. Die flache rote Kühlerhaube erinnerte sie an das blutige Maul eines Hais, der hier gestrandet war, um zu sterben.
Sie verscheuchte den Gedanken, straffte sich und trat mit festen Schritten auf Peter zu. Ein ganz kleines bißchen hatte sie Angst vor dem, was sie tun wollte, und ihr Gewissen meldete sich. Sie ignorierte beides, ging schneller und blieb auf Armeslänge hinter Heyning stehen. Er hatte den Traktor mittlerweile vollkommen auseinander gebaut und die Einzelteile in säuberlich geordneter Unordnung auf die umliegenden fünf Quadratmeter verteilt. Liz war ein wenig erstaunt, aus wie vielen Einzelteilen das Fahrzeug bestand. Sie fragte sich, wie um alles in der Welt er das wieder zusammenbekommen wollte. Ganz kurz kam ihr zu Bewußtsein, daß der Lack der alten Maschine ganz genau den Farbton von eingetrocknetem Blut hatte, und etwas sagte ihr, daß diese Erkenntnis wichtig war, aber der Gedanke entglitt ihr, ehe sie danach greifen konnte.
»Peter?« sagte sie.
Er sah auf, legte den Schraubenschlüssel, mit dem er gearbeitet hatte, aus der Hand und wischte seine ölverschmierten Hände an der Hose ab. »Ma'am?«
Sie lächelte, trat näher an die geöffnete Motorhaube des Traktors und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in den aufgebrochenen Leib der Maschine zu werfen. Normalerweise erfüllte sie jedwedes technische Gerät, das mehr als einen Knopf oder Schalter hatte, mit einem natürlichen Mißtrauen, und das Innere des Traktors erschien ihr wie ein einziges, unentwirrbares Chaos. Aber sie heuchelte wenigstens Interesse. »Kommen Sie voran?«
Peter nickte. Er war nervös. Er hatte ganz deutlich Angst vor ihr. »Es geht«, antwortete er stockend. »Ich ... ich weiß, ich sollte nicht daran herum basteln. Es ist noch eine Menge anderer Arbeit da, aber...«
Liz unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln. »Unsinn«, sagte sie. »Die läuft Ihnen nicht davon, oder? Und wir brauchen den Traktor.« Was natürlich ausgemachter Quatsch war. Sie brauchten einen Traktor so dringend wie Hagel im August, aber sie war schließlich nicht hier, um Peter zur Rede zu stellen, sondern um ihn als Verbündeten zu gewinnen - ob er wollte oder nicht. Und Peter durchschaute die Lüge nicht, denn sein Gesicht hellte sich auf, wenigstens für einen Moment. »Ich kann ihn in ein paar Tagen wieder flott kriegen«, sagte er, »wenn ich die Ersatzteile habe. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten, die nicht sehr viel kosten«, fügte er hastig hinzu.
»Schreiben Sie auf, was Sie brauchen. Wenn wir das nächste Mal in die Stadt fahren, bringen wir es mit.« Liz lehnte sich gegen die Flanke der mächtigen schwarz roten Maschine, zeichnete mit der Finger spitze die Maserung des vom Rost aufgebrochenen Lacks nach und sah sich unschlüssig um. Das Schweigen begann schon nach Sekundenbruchteilen unbehaglich zu werden. Peter war Stefan und ihr nicht umsonst den ganzen gestrigen Tag über aus dem Weg gegangen. Der Grund dafür lag auf der Hand: Ihr Streit mit Ohlsberg. Peter war nicht nur Zeuge dieser häßlichen Auseinandersetzung geworden - was für sich allein schon schlimm genug gewesen wäre -, nein, wahrscheinlich glaubte er sogar, unmittelbar schuld an ihr zu sein, denn schließlich war Ohlsberg an diesem Morgen einzig und allein seinetwegen nach Eversmoor gekommen. Plötzlich begriff sie, daß der arme Kerl den ganzen Tag über wahre Höllenqualen erlitten haben mußte - und wahrscheinlich noch litt.
»Wie gefällt Ihnen der Hof, Peter?« fragte sie.
»Gut, Ma'am.« Peter schluckte nervös. »Es ist... ein schönes Anwesen«, fügte er hinzu. Sein Blick flackerte. Plötzlich schien er nicht mehr zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte.
»Das meine ich nicht«, antwortete Liz. Mit einem Male begriff sie, daß er ihre Worte ganz gut als Vorbereitung zu einem Rausschmiß oder zumindest einem gehörigen Rüffel auffassen konnte. Dabei waren sie nichts anderes als Ausdruck Ihrer eigenen Unsicherheit. Verdammt, was war nur mit ihr los? Es war doch sonst nicht ihre Art, nicht die richtigen Worte zu finden!
»Wie... wie gefällt Ihnen die Arbeit. Bis jetzt, meine ich? Beschweren Sie sich, wenn sie zu hart ist.«
Peter schüttelte hastig den Kopf. »Sie ist nicht schwer, Ma'am, bestimmt nicht. Wo ich vorher war, mußte ich härter arbeiten«, versicherte er. Er versuchte vergeblich, ihrem Blick standzuhalten. Seine Finger spielten nervös an dem zerfransten Strick, den er anstelle eines Gürtels durch die Schlaufen seiner groben Arbeitshose gezogen hatte. »Nun, dafür müssen Sie es hier mit zwei Verrückten aushallen«, sagte Liz scherzhaft. Sie beobachtete Peter bei diesen Worten genau, aber auf seinem Gesicht war keine sichtliche Reaktion zu erkennen. Sie war sich nicht ganz schlüssig, ober sich nun wirklich so gut in der Gewalt hatte oder ob ihn einfach die Furcht lahmte. Aber das blieb sich im Ergebnis ohnehin gleich, zumindest im Augenblick. Sie seufzte, fuhr mit der Hand über den schmutzverkrusteten Kotflügel des Traktors und verrieb stirnrunzelnd ein wenig Staub zwischen den Fingern. Wie beiläufig schob sie den Jackenärmel hoch und sah auf ihre Armbanduhr. Wie immer, wenn sie getrunken hatte, war sie sehr früh wach geworden. Sie hatten sehr zeitig gefrühstückt, und ein bißchen konnte sie Stefans Unmut verstehen - es war noch nicht sieben, aber die durchwachte Nacht und ihr erbärmlicher seelischer Zustand sorgten dafür, daß sie sich fühlte, als wäre es irgendwann lange nach Mitternacht.
Für einen Moment zweifelte sie, ob ihre Idee, die ihr gestern Nacht so spontan gekommen war, heute wirklich noch zu realisieren wäre. Der Hof dieser Starbergs war mehr als zehn Kilometer von Eversmoor entfernt, und in ihrem momentanen Zustand würde sie nirgendwo mehr hinfahren;aller höchstens vor den nächsten Baum. Und trotzdem - wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es nie tun. Verdammt, sie hatte schon Schlimmeres durchgestanden. Ein paar Tassen starker Kaffee und ein paar Zigaretten, und sie würde auch diese wenigen Kilometer noch überstehen. »Wissen Sie was, Peter?«, sagte sie. »Wir fahren jetzt gleich in die Stadt. Sie und ich.«
»Ich?« Heyning zuckte überrascht zusammen, betrachtete seine ölverschmierten Finger und sah sich dann beinahe hilfesuchend in der Scheune um. Sein Blick tastete über den Jaguar und blieb drei, vier Sekunden lang daran haften, als habe er Angst davor. »Ich ... ich habe hier noch so viel zu tun«, sagte er. »Das Dach muß repariert werden, und...«
Er sprach nicht weiter - wozu auch? Liz und er wußten, daß weder das reparaturbedürftige Dach der Scheune noch sonst irgendeine andere unaufschiebbare Arbeit der wirkliche Grund waren.
Der wirkliche Grund hieß Ohlsberg. Peter hatte Angst, ihm zu begegnen, und Liz konnte diese Angst nur zu gut verstehen. Verdammt, warum war es ihr einfach nicht möglich, ihm klar zu machen, daß sie auf seiner Seite stand?
»Unsinn«, sagte sie, laut, aber so freundlich, wie sie konnte. Sie lächelte, drehte sich halb herum und ließ die flache Hand auf die lang gezogene Motorhaube des Traktors klatschen. Es gab einen sonderbar dumpfen, sehr lang nachhallenden Ton. Fast wie eine Glocke, die sie angeschlagen hatte. »Das hat Zeit. Ich möchte, daß Sie dieses Wrack hierin Schuß bringen, und wenn Sie Ersatzteile brauchen, dann ist es das beste, Sie besorgen Sie selbst, nicht wahr?« Sie lachte leise. »Ich bringe garantiert das Falsche mit.«
Peter nickte zögernd. Sein Blick heftete sich erneut auf den Jaguar. Wahrscheinlich dachte er an die letzte Fahrt, die er in diesem Wagen unternommen hatte. Und es waren sicherlich keine guten Erinnerungen.