»Die gibt es sowieso nicht in Beldersens Laden«, sagte er plötzlich. Er klang deutlich erleichtert.
»Aber er kann sie bestellen, oder?« Liz machte eine fast befehlende Handbewegung, als Peter widersprechen wollte. »Außerdem wäre es eine gute Gelegenheit für Sie«, fügte sie nach einer genau bemessenen Pause und in betont beiläufigem Tonfall hinzu, »Ihre Tochter zu besuchen. Sie haben Sie doch eine ganze Weile schon nicht mehr gesehen, oder? Mindestens, seit Sie bei uns sind.« Was genau vier Tage waren,sagte eine spöttische Stimme hinter ihrer Stirn. Aber das schien Peter gar nicht aufzufallen. Und vermutlich hatte sie mit ihrer blind abgeschossenen Bemerkung ins Schwarze getroffen, denn der Ausdruck von Schrecken auf seinen Zügen wuchs noch mehr. Einen Moment lang fürchtete sie, daß er die Frage nach Andy wieder überhören würde, so wie gestern, aber er nickte auch widerstrebend.
»Das stimmt«, sagte er halblaut Liz konnte deutlich sehen, wie unangenehm ihm die Situation war. Aber sie dachte nicht daran, jetzt locker zulassen. »Ich... wollte zu ihr, aber Herr Ohlsberg meinte, der Moment wäre nicht gut, und...«
»Sie verstehen immer noch nicht, Peter«, sagte Liz seufzend. »Es spielt absolut keine Rolle mehr für Sie, was Ohlsberg meint oder nicht. Sie sind ein freier Mann, und Sie können tun und lassen, was immer Ihnen beliebt.«
Peter wand sich wie unter Schmerzen. »Frau Starberg wird... ich meine, ich bin nicht angemeldet, und...«
»Papperlapapp«, unterbrach ihn Liz. »Seit wann muß sich ein Vater anmelden, wenn er sein Kind besuchen will? Sie werden keinen Ärger bekommen, Peter, das verspreche ich Ihnen. Ich komme gerne mit. Wenn Sie nichts dagegen haben, heißt das.« Sie beobachtete ihn bei diesen Worten sehr genau. Sein Gesicht spiegelte Unsicherheit, Verwirrung, auch eine gehörige Portion Angst - aber all das hatte sie erwartet. Bisher schien er noch nicht gemerkt zu haben, worauf sie wirklich hinaus wollte. Ganz kurz kam ihr zu Bewußtsein, daß sie sich nicht sehr viel anders benahm als Ohlsberg: Auch sie benutzte Peter, ohne daß er es überhaupt merkte. Aber verdammt, welche andere Wahl hatte sie schon, wenn sie sich gegen diesen alten Tyrannen wehren wollte? Und es war ja letztendlich sogar zu Peters Vorteil. »Ich würde mich wirklich freuen, Andy einmal kennenzulernen«, fügte sie vorsichtig hinzu.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Heyning nach sekundenlangem Schweigen. »Aber Frau Starberg wird es nicht erlauben, Sie werden sehen. Sie ist... eine sehr strenge Frau, wissen Sie? Eine gute Frau, aber sehr streng.«
»Das werden wir sehen. Ich denke schon, daß ich sie überreden kann, uns zu Ihrer Tochter zu lassen.«
»Aber Herr Ohlsberg...«
»Wird gar nichts davon erfahren«, unterbrach ihn Liz. »Und wenn doch, so werde ich auch mit ihm fertig.« Sie lächelte böse. »Ich verrate Ihnen wohl kein Geheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß ich ihn nicht besonders mag. Aber ich glaube, er mich auch nicht.«
»Sie sind noch immer wütend, nicht wahr?« murmelte Peter.
»Wütend?«
»Wegen gestern morgen. Ich hätte... ich hätte ihn nicht hereinlassen dürfen, solange Sie nicht zu Hause sind.«
»Das war nicht Ihre Schuld.« Liz machte eine wegwerfende Handbewegung. Tatsächlich war sie nur wenige Augenblicke wütend auf ihn gewiesen - wenn es ihr kaum gelang, Ohlsberg Widerstand zu leisten, wie konnte sie dasselbe dann von einem Mann wie Peter erwarten? »Was wollte er?«
Peter druckste einen Moment herum, aber nicht sehr lange; er hatte begriffen, daß sie nicht eher lockerlassen würde, ehe er ihre Fragen beantwortete.
»Nichts Bestimmtes. Er hat... nach allem eben gefragt«, sagte er stockend. »Was Sie tun, was Sie so reden...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Er macht sich Sorgen.«
»Sorgen?« Liz lachte, aber es klang nicht einmal in ihren eigenen Ohren echt. »Um Sie und Ihren Mann, um...« Peter seufzte. Sein Blick wirkte jetzt beinahe gequält. »Um alles eben. Er sagt, Sie rühren an Dinge, an die man nicht rühren sollte.« O ja, dachte Liz böse. An seine Macht zum Beispiel. Ihre anfängliche Verwirrung wich einer immer stärker brodelnden Wut. Wahrscheinlich war es das erste Mal seit langem, daß es jemand wagte, Ohlsberg so offen Widerstand zu leisten, wie sie es tat. Plötzlich war alles ganz klar, und plötzlich begriff sie auch, warum Ohlsberg so massiv gegen sie vorging. Sie waren nicht einfach zwei verrückte Stadtleute, die einen alten Hof gekauft hatten und hier das alternative Leben probten. Das waren sie allenfalls für ihre Freunde, für Gabi und Rainer und Stefans Familie, die kein Hehl dar ausgemacht hatten, daß sie diese Idee für leicht hirnrissig hielten - nein, für Ohlsberg waren sie eine Gefahr, eine direkte unmittelbare Gefahr. Sie wußte bis heute nicht genau, welchen Rang Ohlsberg hier eigentlich bekleidete, aber er mußte so etwas wie der unumschränkte Herrscher von Schwarzenmoor und seiner Umgebung sein - er konnte es einfach nicht hinnehmen, daß sie - eine Fremde, und noch dazu eine Frau! - sich ihm so offen widersetzte. Bisher war es nicht einmal zu einem wirklichen Streit zwischen ihnen gekommen, und Liz war trotz allem nicht sicher, ob sie au seiner ganz offenen Konfrontation wirklich als Siegerin hervorgehen würde - aber allein die Tatsache, daß sie es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen, war zu viel. Ohlsberg spürte ganz instinktiv, daß sie ihm gefährlich werden konnte, und er reagierte ganz instinktiv darauf.
Aber gut - es war ihr schon einmal gelungen, seine Pläne zu durchkreuzen, und jetzt war sie am Zug.
Dann, ganz plötzlich, kamen ihr Zweifel. Zweifel, ob das, was sie vorhatte, wirklich richtig war. Hatte sie überhaupt das Recht, sich einzumischen? Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, mochte das, was mit Peter und seiner Tochter geschehen war, unmenschlich sein, aber letztlich war es sein Leben, und sie war nicht mehr als eine Fremde, ein Eindringling, der aus der fernen kalten Welt der Städte gekommen war und die jahrhundertealte Ruhe und Ordnung des Lebens hier draußen störte. Vielleicht tat sie das alles gar nicht so sehr um Peters und des Mädchens willen, wie sie sich einzureden versuchte, sondern aus purem Egoismus und nur, um einen Vorwand für ihre ganz private Rache an Ohlsberg zu haben.
Sie schob den Gedanken mit einem ärgerlichen Achselzucken beiseite und machte eine auffordernde Handbewegung.
»Also?« Obwohl es wie eine Frage klang, ließen ihr Blick und die begleitende Geste auf den Wagen keinen Zweifel, daßes ein Befehl war. Sie hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Wenn sie Peter zu seinem Glück zwingen mußte - gut. Peter nickte. »Ich muß ... mich noch waschen«, sagte er. »Es dauert nicht lange.« Liz atmete innerlich auf, als Peter sich herumdrehte und zudem Wasserfaß neben der Tür ging, um sich zu waschen. Die erste Hürde war genommen, sogar leichter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Was hätte sie getan, wenn er einfach nein gesagt hätte? Oder wenn er - wie Stefan halb im Ernst, halb scherzhaft bemerkt hatte - seine Tochter vielleicht gar nicht bei sich haben wollte!
Nun gut, sie würden es sehen. Der schwierigere Teil lag ohnehin noch vor ihr. Er hatte bisher weniger ihren Argumenten als vielmehr seinem Respekt vor ihr gehorcht. Aber gut - auch der Rest würde sich ergeben, irgendwie. Schlimmstenfalls würde sie einfach auf ihr Improvisationstalent bauen, das sie noch nie im Stich gelassen hatte. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie wirklich vorgehen wollte, aber sie spürte ganz instinktiv, daß das, was Ohlsberg als Druckmittel gegen Peter benutzte, sehr leicht umzudrehen war. Möglicherweise hatte er den Kampf bereits verloren, ehe er wirklich begonnen hatte.
Sie stieg in den Wagen, ließ den Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein. Die großen Halogenlampen stachen zwei grelle Bahnen aus Licht in die Scheune, und sie merk teerst jetzt, wie dunkel es hier drinnen noch war.