»Ich ... ich verstehe nicht...«
»Ich meine, ob es eine Geburtsurkunde gibt, in der Sie als Vater des Mädchens erwähnt werden«, erklärte Liz. »Ich weiß, ich habe Sie das schon einmal gefragt, aber ich will sicher gehen. Es gibt dieses Papier?«
Peter überlegte einen Moment und nickte dann. »Und Sie haben niemandem das Sorge recht oder die Vormundschaft übertragen? Keine Dokumente unterschrieben? Irgendwelche Papiere?«
»Sie meinen, ob ich... Andy weggegeben habe? Für immer?« Liz nickte, und Peter schüttelte äußerst heftig den Kopf. »Die ... die Starbergs haben sich um sie gekümmert, seit sie auf der Welt ist«, sagte er. »Aber ich habe nichts unterschrieben. Das hat alles Herr Ohlsberg erledigt. Er hat immer gesagt, daß er sich um alles kümmert. Und das hat er ja auch getan.«
»Glauben Sie«, fragte Liz vorsichtig, »daß das Mädchen bei den Starbergs glücklich ist? Ich meine... immerhin ist sie dort aufgewachsen.« Das war es. Was, wenn er ja sagte? Sie hatte nicht das Recht, dieses Kind unglücklich zumachen, nur um sich an Ohlsberg zu rächen.
»Sie ist nicht glücklich«, antwortete Peter bestimmt. Seine Stimme klang überraschend fest und sicher. »Ich weiß das. Frau Starberg ist... keine gute Frau. Sie schlägt sie.« Das war so ungefähr das genaue Gegenteil dessen, was er noch vor weniger als einer Viertelstunde behauptet hatte, dachte Liz alarmiert. Was war das? Nun endlich die Wahrheit - oder hatte sie Peter so eingeschüchtert, daß er einfach alles gesagt hätte, nur um ihr nicht zu widersprechen?
»Das tun alle Eltern von Zeit zu Zeit«, sagte sie vorsichtig. »Die meisten jedenfalls.«
»Nicht so«, beharrte Peter, und diesmal spürte sie, daß er die Wahrheit sagte. Der Ton in seiner Stimme war kein Haß, aber doch etwas, das ihm sehr nahe kam. »Sie mag keine Kinder«, behauptete er. »Sie hat Andy nur genommen, weil Ohlsberg es wollte. Und sie muß viel arbeiten.«
»Dann«, sagte Liz, »sehe ich keinen Grund mehr, aus dem sie auch nur einen einzigen Tag länger dort bleiben sollte. Wir können sie direkt mitnehmen, wenn Sie wollen, Peter. Es wird zwar auf der Rückfahrt ein wenig unbequem«, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu, »aber es wird schon gehen.«
»Ohlsberg wird es nicht zulassen«, wiederholte Peter stur.
»Ohlsberg interessiert mich nicht«, gab Liz geringschätzig zurück. »Außerdem wird er von der ganzen Sache nichts merken, bevor es zu spät ist. Und wenn Andy erst einmal bei uns draußen auf dem Hof ist, dann wird er sich hüten, irgend etwas zu unternehmen.«
Peter schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, Ma'am.«
»Warum nicht?« fragte Liz scharf. »Wollen Sie nicht?«
»Doch. Aber... aber Sie werden Ärger bekommen, Sie und Ihr Mann. Ohlsberg ist ein sehr mächtiger Mann. Ich weiß auch gar nicht, wie man mit einem Kind umgeht. Und ich... ich will nicht, daß Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen.«
»Vielleicht habe ich gerne Schwierigkeiten mit Ohlsberg«, sagte Liz achselzuckend. »Außerdem überschätzen Sie ihn, glaube ich. Sie kennen Stefan noch nicht richtig. Jemanden wie Ohlsberg verspeist er zum Frühstück, wenn es sein muß. Und um Andy kümmere ich mich schon. Schließlich ist sie kein Säugling mehr.«
»Trotzdem...«
»Und außerdem haben wir bereits genug Schwierigkeiten mit Ohlsberg, Peter. Daß er Sie praktisch als Spion in unser Haus geschickt hat, reicht ja wohl. Ich weiß, daß Sie niemals etwas tun würden, was uns schadet«, fügte sie hastig hinzu, als sie das Erschrecken auf seinem Gesicht sah, »aber Sie müssen auch einsehen, daß es so nicht weitergeht. Auch nicht für Sie. Er würde Sie niemals in Frieden lassen, Peter, nie. Nicht, solange er Andy hat.«
»Aber...«
»Kein Aber«, sagte sie kopfschüttelnd. Sie schnippte ihre Zigarette aus dem Fenster und griff zum Zündschlüssel. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir reden jetzt nicht weiter darüber, sondern fahren erst einmal zu den Starbergs. Ich werde mir Andy ansehen, und Sie denken in der Zwischenzeit in aller Ruhe darüber nach, was ich Ihnen vorgeschlagen habe. Wenn Sie einverstanden sind, brauchen Sie mir nur ein Zeichen zu geben. Es reicht, wenn Sie nicken. Alles andere erledige ich. Sie brauchen nichts zu tun. Vor allem brauchen Sie keine Angst zu haben. Vor niemandem. Okay?«
Peter hielt ihrem Blick eine halbe Sekunde lang stand, ehe er den Kopf senkte. Liz ließ den Motor an und fuhr los.
25.
Der Weg war nicht mehr sehr weit, aber der unangenehmste Teil lag noch vor ihnen - in zweifacher Hinsicht. Das Haus der Starbergs lag nicht weiter entfernt von Schwarzenmoor als ihr Gut, was selbst bei der schlechten Straße und Liz' Müdigkeit kaum mehr als einen Katzensprung für den Jaguar darstellte; aber es lag auf der anderen Seite der Stadt, und es gab nur diese einzige Straße, so daß sie Schwarzenmoor durchqueren mußten. Zu Liz' - und mehr noch sichtbar Peters - Erleichterung sahen sie weder Ohlsberg noch einen der anderen Stadtbewohner; die Straße und die wenigen Häuser lagen wie ausgestorben da, während der Jaguar an ihnen vor überrollte. Aber Liz war nicht so naiv, diesem Umstand zu viel Bedeutung beizumessen - daß sie niemanden sahen, bedeutete ganz und gar nicht, daß sie umgekehrt nicht gesehen wurden. Und Liz war sogar ziemlich sicher, daß man auch Peter in ihrer Gesellschaft erkannte und Ohlsberg nach spätestens fünf Minuten wußte, daß sie durch die Stadt gekommen war und mit wem und in welcher Richtung. Aber das machte nicht viel - es gab wie gesagt nur diese eine Straße, was nun vielleicht zu ihrem Vorteil wurde, denn Ohlsberg konnte unmöglich ahnen, wohin sie wirklich fuhren.
Liz war mit ihren Überlegungen genau an diesem Punkt angelangt, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen glaubte; nicht mehr als ein schattenhaftes Wischen irgendwo rechts vor ihr, ein grauer Fleck, der sich kaum von dem etwas helleren Grau der Häuser abhob.
Ganz instinktiv trat sie auf die Bremse. Sie war ohnehin nicht sehr schnell gefahren, aber sie bremste mit aller Kraft. Die Reifen des Jaguars kreischten protestierend, als der Wagen praktisch auf der Stelle zum Stehen kam; die flache Schnauze bewegte sich wippend nach unten und berührte fast das Pflaster, und Peter, der sich nicht angeschnallt hatte, wurde ABS-bremskraftverstärkt nach vorne geschleudert und fing den Sturz erst im allerletzten Moment mit erschrocken hoch gerissenen Händen ab.
Liz fluchte unterdrückt, überzeugte sich mit einem raschen Seitenblick davon, daß Peter unverletzt geblieben war, und ließ mit einem zweiten, schon nicht mehr ganz so unterdrückten Fluch den Verschluß ihres Sicherheitsgurtes aufschnappen. Ihr Blick sprühte vor Zorn, als sie aus dem Wagen stieg.
»Was, zum Teufel...«
Sie sprach nicht weiter, als sie erkannte, wen sie da beinahe über den Haufen gefahren hätte.
Es war Beldersen.
Er stand da, blickte sie mit einer Mischung aus Vorwurf und sanftem Tadel an (kein Schrecken, dachte sie verwirrt, Beldersen war nicht im mindesten erschrocken!!) und lächelte. »Ist... ist Ihnen etwas passiert?« stotterte sie, vielmehr aus dem Konzept gebracht als nun wirklich erschrocken.
Beldersens Lächeln wurde noch breiter. Liz war sicher, daß es beruhigend wirken sollte, aber in diesem Moment kam es ihr viel eher wie eine böse Grimasse vor, ein höhnisches Grinsen, fast als lese er ihre Gedanken und amüsierte sich insgeheim darüber. Wo war er hergekommen ?! »Nein«, sagte er, wie immer ruhig, wie immer sehr langsam, jedes Wort sorgfältig artikulierend, als überlege er sich seinen Sinn ganz genau, bevor er es aussprach. »Aber Sie sollten vorsichtiger fahren, Frau König. Dies hier ist eine Stadt, wissen Sie? Wenn auch eine kleine.«