Liz nickte ganz instinktiv und kam sich dabei immer hilfloser vor. Wo, zum Teufel, war er hergekommen? Verwirrt sah sie nach rechts, dann nach links. Sie waren noch innerhalb Schwarzenmoors, das rechte Vorderrad des Jaguars, der durch das abrupte Bremsmanöver ein ganz klein wenig aus der Spur gekommen war, war nur Zentimeter von der Bordsteinkante entfernt, das Haus keinen Meter dahinter - aber da war keine Tür.
Keine Tür.
Keine Gasse. Kein Spalt zwischen den Häusern, keine...
Keine Möglichkeit für einen Mann wie Beldersen, so abrupt zu erscheinen, daß sie ihn nicht sehen konnte. Wo war er hergekommen, zum Teufel?!
»Stimmt etwas nicht?« Beldersen legte den Kopf schräg, machte einen halben Schritt auf sie zu und hob seine verkrüppelte rechte Hand, wie um nach ihr zu greifen. In seinen Augen war ... etwas ...
... ein Lächeln, aber auch...
Liz unterdrückte im letzten Augenblick einen Schrei, prallte zurück und wäre um ein Haar gestürzt, als die Stoßstange des Jaguars ihre Kniekehle berührte.
Haltsuchend streckte sie die Hand aus, bekam die offen stehende Tür zufassen und fuhr zusammen, als ein scharfer Schmerz durch ihre rechte Hand fuhr. Sie spürte, wie die Wunden unter dem ungeschickt angelegten Verband aufbrachen und wieder zu bluten begannen.
Aber der Schmerz riß sie auch in die Wirklichkeit zurück.
Das dämonische Glühen in Beldersens Augen erlosch, und sie begriff, daß es wohl in Wahrheit nirgendwo anders als in ihrer eigenen Phantasie existiert hatte, aus dem satanischen Grinsen auf seinen Zügen wurde wieder ein ganz normales, sogar etwas verlegenes Lächeln, der Golem war wieder Mensch.
»Sind Sie wirklich in Ordnung?« fragte Beldersen. Er war stehengeblieben, die Hand wie in einer grotesken Pantomime mitten in der Bewegung erstarrt.
Sie nickte hastig. »Es ist... nichts. Ich war nur erschrocken, als Sie so plötzlich... so plötzlich auf der Straße standen.« (Aus dem Nichts.) Beldersen seufzte. Sein Blick streifte seine eigene rechte Hand, und er sah noch ein bißchen schuldbewußter aus als bisher; wahrscheinlich glaubte er, sie wäre aus lauter Ekel vor ihm so überhastet zurückgeprallt. Liz verspürte plötzlich das heftige Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Aber sie tat es nicht.
Statt dessen schüttelte sie noch einmal den Kopf, raffte all ihre Kraft zu einem halbwegs gelungenen Lächeln zusammen und sagte noch einmaclass="underline" »Es ist wirklich nichts, Herr Beldersen. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
Beldersen winkte ab. »Das macht nichts«, sagte er. »Ab erfahren Sie in Zukunft ein wenig vorsichtiger. Unsere Straßen sind nicht für Wagen wie den Ihren ausgelegt.« Sein Blick tastete über den Jaguar, blieb einen Moment auf Peters bleichem Gesicht hinter der Windschutzscheibe haften und glitt weiter, ohne daß sie irgendeine Reaktion erkennen konnte. Und er drehte sich auch ohne ein weiteres Wort um und trat wieder auf den Bürgersteig zurück, von dem er herunter aber das war er doch gar nicht! Er war geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht, ein Schatten, der aus dem Boden gewachsen war getreten war. Seine unverletzte Linke machte eine einladende (oder befehlende?) Geste, weiterzufahren. »Seien Sie vorsichtig. Es gibt auch ein paar Kinder hier in der Stadt.«
»Das werde ich«, versprach Liz. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, wieder in den Wagen zu steigen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, den Sicherheitsgurt einrasten zu lassen. Sie redete sich ein, daß es nur eine Folge der Schmerzen war, die in ihrer Rechten wühlten. Sie fuhr weiter, ganz gegen ihre eigene Versicherung so schnell, daß die Reifen beim Anfahren durchdrehten und das Kreischen bis ans andere Ende des Ortes zuhören sein mußte. Die einzige Straße, aus der Schwarzenmoor bestand, schrumpfte rasch im Rückspiegel hinter ihnen zusammen, aber Liz sah kaum auf die Straße, sondern starrte weiter in den Spiegel. Sie wartete darauf, daß Beldersen sich wie ein Spuk auflöste - was er natürlich nicht tat. Statt dessen schrumpfte er langsam zusammen und wurde schließlich zu einem konturlosen Fleck, wie es sich für ein normales Spiegelbild gehörte.
Und doch... bist du wahrscheinlich schon wieder dabei, hysterisch zu werden, dachte sie wütend. Sie hätte sich wirklich nicht ans Steuer setzen sollen, so müde und überreizt, wie sie war. Sie begann schon, Gespenster zu sehen. Und sie begann sie vor allem dort zu sehen, wo erstens keine waren und wo sie sie zweitens besser nicht sehen sollte - nämlich auf der Seite der Guten.
Sie hätte ihre eigene Reaktion noch verstanden, wäre es Ohlsberg gewesen, den sie um ein Haar überfahren hätte. Aber Beldersen hatte ihr nie etwas getan, sie hegte keinen Groll gegen ihn, und sie hatte auch keinen Grund, ihn zu fürchten. Von allen Einwohnern Schwarzenmoors (verrückt - sie kannte ja nur zwei: Ihn und Ohlsberg!), also gut: Erstellte die fünfzig Prozent der ihr persönlich bekannten Schwarzenmoorer dar, die ihr gegenüber nicht feindselig eingestellt waren.
Was nichts daran änderte, daß er quasi aus dem Nichts vor dem Wagen aufgetaucht war.
Verdammt, hör auf, dachte sie wütend. Sie war einfach überreizt. Es brachte gar nichts, wenn sie sich selbst noch verrückter machte, als sie schon war.
Vielleicht half es, wenn sie sich mit praktischeren - und vor allem näher liegenden - Problemen beschäftigte.
»Die Starbergs, Peter«, fragte sie, als sie die Ortschaft hinter sich gelassen hatten und wieder etwas langsamer fuhren, »haben sie Telefon?« Sie musterte Peter bei diesen Worten genau. Er war bleich wie der Tod. Sein Blick flackerte. Er mußte sich zu Tode erschreckt haben, als Beldersen so jäh vor ihnen aufgetaucht war. Seltsam, daß sie beide kein Wort darüber verloren hatten. Und es auch jetzt nicht taten.
Peter überlegte einen Moment angestrengt. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich ... ich habe nie eines bei ihnen gesehen. Warum?«
»Oh, nur so«, antwortete Liz ausweichend. »Ich wollte es einfach wissen.« Sie lächelte, schaltete in einen niedrigeren Gang und gab heftig Gas. Der Wagen machte einen spürbaren Satz, und der erhoffte Effekt stellte sich fast augenblicklich ein: Peter fuhr zusammen, wurde noch ein wenig blasser, als er ohnehin schon war, und konzentrierte seine Energie lieber darauf, sich an seinen Sitz festzuklammern, statt unangenehme Fragen zu stellen.
Obwohl Liz jetzt sehr schnell fuhr, brauchten sie noch einmal eine knappe Viertelstunde, bis sie das Haus der Starbergs erreichten, denn es stellte sich heraus, daß die fünf Kilometer Distanz Luftlinie gewesen waren und sie in Wahrheit fast die dreifache Strecke zurücklegen mußten; und das auf einer Straße, die kaum gut genug für einen Ochsenkarren gewesen wäre, geschweige denn für einen super flach gebauten Sportflitzer wie den Jaguar. Es erschien Liz hinterher beinahe wie ein Wunder, daß weder ihre Ölwanne noch sonst irgendein wichtigeres Teil des Wagens auf der Strecke blieb. Aber vielleicht waren die Geister dieses Landes heute ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite.
Sonderbar - wieso sah sie Beldersens Gesicht vor sich, als sie diesen Gedanken dachte?
26.
Das Haus sah aus, als hätte es ein Riese direkt aus Schwarzenmoor heraus gepflückt und fünf Kilometer weiter südlich wieder abgesetzt, und nicht einmal sehr sorgfältig. Es war auf einer der wenigen flachen Anhöhen dieser Landschaft erbaut, und es stand ein wenig schräg, was wahrscheinlich an dem sumpfigen Untergrund lag, in den sein Fundament - wenn es überhaupt einen solchen Luxus hatte - im Laufe der Jahrzehnte abgesackt war. Und es unterschied sich wirklich kaum von den übrigen Gebäuden der Ortschaft - der gleiche, gedrungene Baustil, der es abweisend und kalt, zugleich aber auch trutzig und fest erscheinen ließ -, stand jedoch allein und hatte einen winzigen Vorgarten, der zu reinen Hälfte mit Gemüse, zur anderen mit Blumen bepflanzt war. Die Fenster waren klein und mit schweren, hölzernen Läden gesichert, und die Tür war so niedrig, daß selbst ein kleingewachsener Mensch gebückt gehen mußte, um hindurchzukommen. Die Einwohner Schwarzenmoors, dachte Liz sarkastisch, mußten in direkter Linie von einem Geschlecht besonders kleinwüchsiger Pygmäen abstammen. Sie grinste, als der Gedanke die Vorstellung eines nur siebzig Zentimeter großen Ohlsberg vor ihrem inneren Auge aufsteigen ließ. Liz hatte den Jaguar direkt vor der Auffahrt geparkt. Sie hatte gewendet und den Wagen wieder in Fahrtrichtung nach Hause gebracht. Irgend etwas an dieser Konstellation gefiel ihr nicht, aber sie wußte nicht, was es war. Dann erkannte sie es: Sie benahm sich, als bereite sie sich auf eine schnelle Flucht vor.