Das Telefon schallte erneut, als sie den Fuß der Treppe erreichte, und es gellte zum dritten Mal, als sie die Wohnzimmertür auf stieß und den Lichtschalter umlegte. Dann brach es mitten im Klingelton ab. Einen Moment lang musterte Liz den Apparat feindselig, felsenfest davon überzeugt, daß dieses verdammte Ding ganz bewußt bis zu diesem Augenblick gewartet hatte. Ihre Hand, die noch immer auf dem Lichtschalter lag, begann zu zittern. Die Angst machte einer Aufwallung jäher und vollkommen sinnloser Wut Platz. Sie mußte all ihre Willenskraft auf bieten, um nicht herumzufahren und die Tür so heftig hinter sich zu zuwerfen, daß das ganze Haus davon aufwachte.
Aber sie mußte sich beherrschen; sie waren nicht mehr allein im Haus. Außer Peter war da jetzt auch noch Andy, die nur eine Tür weiter schlief, und welchen Eindruck würde es wohl auf das Mädchen machen, wenn ihre Pflegemutter in spe vor ihren Augen einen Wutanfall bekäme?
Außerdem war die Erklärung ganz einfach - das Telefon hatte lange genug geklingelt, daß die Verbindung einfach vom Amt unterbrochen worden war.
Liz atmete erleichtert auf. Vielleicht lag es schlichtweg an dem hellen Neonlicht, in das das Wohnzimmer getaucht war, vielleicht war es auch die Tatsache, daß sie sich gewehrt hatte - aber im gleichen Augenblick, in dem sie das Zimmer betreten hatte, war der Wahnsinn von ihr abgefallen. Er war noch da, lauerte wie ein geduldiges Raubtier irgendwo am Rande ihres Bewußtseins und wartete darauf, erneut über sie herzufallen, aber im Moment war sie in Sicherheit.
Liz überlegte einen Moment, ob sie wieder hinaufgehen und weiter schlafen (Schlafen? Lächerlich!) oder ein paar Minuten warten sollte. Es war Mitternacht - beinahe jedenfalls -, und wer immer angerufen hatte, mußte einen triftigen Grund dafür haben, den Apparat geschlagene fünfundzwanzigmal klingeln zu lassen. Wahrscheinlich würde er es noch einmal versuchen. Und wenn es wirklich Ohlsberg war...
Liz lächelte kampflustig. Nun, jetzt war sie wach genug, diesem alten Stinker den Arsch aufzureißen, wenn er wirklich noch einmal anrief. Beinahe freute sie sich sogar darauf. Behutsam schloß sie die Tür, ging zum Telefon und stellte es leiser, damit sein Lärmen nicht wieder durch das ganze Haus schrillte. Es war sowieso erstaunlich, daß Peter und seine Tochter nicht aufgewacht waren, denn der Apparat vollführte wirklich einen Heidenlärm - Stefan hatte ja damals extra eine lautere Klingel einbauen lassen, damit sie es in dem großräumigen Haus auch überall hörten. Einen Moment lang blieb sie einfach stehen und lauschte. Es war sehr still im Haus, und trotz der dicken Wände hätte sie gehört, wenn Peter und seine Tochter wach geworden wären - schließlich grenzte die Kammer direkt ans Wohnzimmer. Aber da war nichts. Nein, alles schlief, wie es sich für diese Uhrzeit gehörte.
Wenn man nicht gerade von Gespenstern und Alpträumen heimgesucht wurde, hieß das.
Liz seufzte, zog ihren Morgenrock ein bißchen hoch und betrachtete ihre schmutzstarrenden Füße, aber anders als vorhin jetzt mit einer Art sehr kaltem, fast schon wissenschaftlichem Interesse. Es wäre so leicht, alles unter dem Stichwort Alptraum zu verbuchen und einfach zu vergessen - aber der Dreck an ihren Füßen war echt, und jetzt, im hellen Neonlicht des Wohnzimmers, sah sie noch mehr. Zwischen den Zehen klebten kleine winzige grüne Partikelchen: Tannen grün, zerbröseltes trockenes Laub - es gab überhaupt keinen Zweifel, sie war draußen gewesen. Also gut, dachte sie, dann war sie eben doch verrückt.
Nicht sehr schlimm; nur ein bißchen bescheuert, so daß es zum Schlafwandeln und Halluzinieren reichte.
Seltsamerweise beruhigte sie dieser Gedanke, denn er bedeutete nicht weniger, als daß alles nicht wahr war. Die Moorhexe - sie hatte sich entschlossen, das DING im See so zu nennen - hatte es ihr ja gesagt: ICH BIN IN DIR, genau das waren seine Worte gewesen.
Aber er hatte sich verrechnet, der alte Schleim er. Mit solchen Tricks konnte er vielleicht jemandem wie Peter beikommen, aber nicht ihr. Wenn sie verrückt war - na gut, es gab genug Leute, die ihr helfen konnten.
Das Telefon klingelte erneut. Liz nahm den Hörer ab, atmete sehr tief ein und wieder auf und legte sich ein paar Unfreundlichkeiten zurecht, mit denen sie das Gespräch eröffnen würde, ehe sie die Muschel ans Ohr drückte. »Ja?«
Es war nicht Ohlsberg. Sie spürte es, noch ehe sich die Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. Die Verbindung war schlecht, von knisternden Störgeräuschen überlagert und so schwach, als käme das Gespräch geradewegs vom Jupiter, und es war völlig verrückt und völlig unmöglich, aber sie fühlte, daß dies mehr war als eine normale telefonische Verbindung, sie fühlte den Schrecken, den blanken Terror, der am anderen Ende der Leitung herrschte, noch ehe sich die Stimme meldete, zitternd, schwach und halb hysterisch.
»Frau König?«
Das war doch...
»Stefanie?« fragte sie verwirrt und selbst ein bißchen erstaunt, daß sie das Mädchen so zweifelsfrei erkannte. »Sind Sie das?« Was, in Dreiteufels Namen, wollte diese kleine Hysterikerin von ihr?!
»Ja«, antwortete Stefanie. »Hören Sie, Liz, es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit stören muß, aber...«
»Aber was?« fragte Liz, ein wenig schärfer, als sie eigentlich gewollt hatte. »Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Das weiß ich, Frau König«, sagte - nein: stammelte Stefanie. »Aber es ist wichtig. Bitte, ich muß Sie sehen.«
»Sehen?« Liz starrte den Telefonhörer an. »Sind Sie verrückt geworden?«
»Ich wollte, es wäre so«, antwortete Stefanie. Ihre Stimme zitterte jetzt, war kurz davor, überzukippen. »Aber es ist wichtig. Hören Sie, Sie ... Sie müssen herkommen. Sofort! Ich würde zu Ihnen kommen, aber das würde nichts nutzen! Sie müssen weg! Sie...«
»Einen Moment«, unterbrach sie Liz. »Immer mit der Ruhe. Was ist passiert? Was soll das alles?«
Sekundenlang hörte sie nichts als ein immer lauter werdendes Knistern und Knacken, so daß sie schon glaubte, die Leitung wäre endgültig zusammengebrochen, dann wurden Stefanies Atemzüge wieder lauter, und sie konnte zumindest Fetzen von dem verstehen, was sie sagte: »... Gefahr, Liz. Einer entsetzlichen Gefahr. Ich... ich habe versucht, weiter...« Jemand war in der Leitung.
Es gab überhaupt keine logische Begründung für diese Annahme, aber Liz spürte zweifelsfrei, daß außer Stefanie und ihr noch jemand (oder etwas?) in der Leitung war und mithörte. Das Krachen und Knistern, das sie für eine elektronische Störung hielt, war...
»... so entsetzlich, daß ich es erst nicht geglaubt habe, aber ...« Waren Schritte. »... müssen herkommen. Wir können uns irgendwo treffen, vielleicht auf halbem Wege, aber nicht bei Ihnen...« Schritte von etwas Gigantischem, etwas ungeheuer Großem, das auf mehr als zwei oder vier Füßen lief. »... dort weg, verstehen Sie?«
»Ich ... verstehe überhaupt nichts«, sagte Liz mühsam. Es fiel ihr schwer, sich auf Stefanies Worte zu konzentrieren.
Wieder griff nackte Angst nach ihr. Es gelang ihr zwar auch diesmal noch, sie abzuschütteln, aber wie oft noch?
»Bitte, beruhigen Sie sich erst einmal, Kindchen«, sagte sie. »Ich verstehe überhaupt nicht, was los ist. Was ist entsetzlich, und was wollen Sie mir sagen?«
»... am Telefon«, drang Stefanies Stimme durch das Krachen und Knistern der (Schritte) Störungen. »... keine Zeit mehr... vielleicht schon zu spä ...«