Einen Atemzug lang blieb sie stehen, ehe sie mit steifen, widerwilligen Schritten weiterging und sich dem leblosen Körper des Tieres näherte.
Carry war nicht bloß tot.
Liz wurde plötzlich klar, daß es Unterschiede gab, daß Tod nicht gleich Tod war, sondern daß auch dieser Begriff differenziert werden konnte und von sanftem Entschlafen über die ganze Skala des Grauens hinweg reichte.
Und noch ein Stückchen weiter.
Carrys Beine waren verdreht und gebrochen. Sein breites, gutmütiges Hundegesicht war zu einer breiten Masse zerschlagen, in der weiße Knochensplitter und hellrotes Blut glitzerten. Sein Fell war zerschunden, ganze Bündel wie von einer ungeheuerlichen Kraft herausgerissen, so daß darunter die blutige, nackte Haut sichtbar war.
Eine endlose Sekunde lang betrachtete Liz den Körper des Hundes mit einer fast wissenschaftlichen Neugier, und ihr Denken wurde allein von der Frage ausgefüllt, welcher Gegner einen so riesigen Hund wie Carry in wenigen Sekunden derart zurichten konnte. Und dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, schlug das Grauen über ihr zusammen. Sie brach in die Knie, warf sich über den zerfetzten Körper des Hundes und schrie, schrie, schrie...
32.
»Es ist mir vollkommen egal, ob so etwas hier in der Gegend schon einmal vorgekommen ist oder nicht! Und es ist mir auch völlig gleich, ob Sie sich irgendeinen Grund dafür denken können oder nicht! Vollkommen, verstehen Sie?! Vollkommen!!! Irgend jemand ist heute nacht hier hergekommen, hat meinen Hund erschlagen und meine Frau zu Tode erschreckt! Und das nennen Sie einen relativ harmlosen Zwischenfall!!«
Stefans Gesicht war beinahe dunkelrot vor Zorn. Hektische rote Flecken glänzten auf seinen Wangen, und seine Stimme zitterte und schien dicht vorm Umkippen zu stehen. Liz hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Seine Hände zitterten, als hätte er das dringende Bedürfnis, irgend etwas zupacken und zu zerdrücken. Alles an Stefan schien in ununterbrochener nervöser Bewegung zu sein, die er nur zum Teil kontrollieren konnte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er sich im nächsten Moment auf Ohlsberg gestürzt und auf ihn eingeschlagen hätte.
Es war wieder helclass="underline" genauer gesagt: kurz vor Mittag, aber das Sonnenlicht dort draußen brachte jetzt keinen Trost mehr, der Schutz des Tages war dahin, seit der vergangenen Nacht. Seit das DING im Haus war.
Liz hob stöhnend den Arm, bedeckte die Augen mit der Hand und bewegte sich unruhig. Ohlsberg sah sie rasch und nervös, aber eher irritiert als schuldbewußt an und drehte sich rasch wieder zu Stefan um, als er ihrem Blick begegnete.
Liz spürte kaum Groll gegen ihn. Er sollte nicht hier sein, und sie war trotz Stefans und Swensens eindringlicher Mahnung heruntergekommen, um ihm genau dies zu sagen, mit Worten, die sie sich sorgfältig zurechtgelegt hatte, aber alles erschien ihr plötzlich so unwichtig und vollkommen sinnlos, jetzt, als sie ihm gegenüberstand - mit Sicherheit eine Wirkung der Spritze, dachte sie matt, die sicherlich auch für ein Pferd gereicht hätte, so wie sie sich fühlte. Morphium. Sicher hatte er ihr Morphium gespritzt oder ein ähnlich starkes Teufels zeug.
Der Arzt war noch während der Nacht gekommen, aber der Polizist, nach dem Stefan sofort telefoniert hatte, hatte sich bisher nicht blicken lassen, und Stefans Laune hatte sich mit jeder Minute weiter verschlechtert, die er gewartet hatte. Er hatte Peter angeschrien und Türen geknallt. Liz hätte beinahe selbst Angst vor ihm bekommen. Dann war Ohlsberg erschienen. Trotz des umnebelten Zustandes, in den die Spritze ihren Geist versetzt hatte, hatte sie das Motorengeräusch seines altersschwachen VW-Kübel-wagens erkannt und war hoch geschreckt. Sie wußte nicht, ob Stefan ihn herbei zitiert hatte oder ob der örtliche Nachrichtendienst einfach schnell genug gearbeitet hatte, ihn von selbst auf den Plan zu rufen - aber wenn, dann mußte er es jetzt schon bitter bereut haben. Während der letzten dreißig Minuten hatte er Stefan König, Erfolgsautor, Stadtflüchtling und anerkannt umgänglicher Mensch, von einer Seite kennengelernt, die die allerwenigsten an ihm vermuteten.
Ohlsberg wand sich wie ein geprügelter Hund, während er darauf wartete, daß Stefan weiter brüllte, was er während der letzten halben Stunde ausdauernd und ausgiebig getan hatte. Selbst Liz, die Ohlsberg jegliche Schlechtigkeit zutraute - von Kindsmord angefangen - und die ihm in den letzten Tagen mehr als einmal die Pest an den Hals gewünscht hatte, konnte sehen, wie unangenehm ihm der Vorfall war. Wie er so dastand und Stefans Wutausbrüche über sich ergehen ließ, tat er ihr beinahe ein bißchen leid.
Aber nur beinahe. Sie war viel zu high, um irgendwelche echten Gefühle zu empfinden.
Es ging nur um einen Hund, aber schließlich war Stefan kein x-beliebiger ostfriesischer Torfkopf, den er mit ein paar nichtssagenden Worten beruhigen konnte. Trotz der kaum verhohlenen Abneigung und Kälte, die ihnen die Menschen hier entgegen brachten, hatten sie Respekt vor Stefan. Er war nicht irgendwer, sondern ein berühmter Mann. Ihn - oder besser noch seine Frau - hinterrücks und heimlich anzugreifen war eine Sache; sich auf eine offene Konfrontation mit ihm einzulassen eine gänzlich andere. Liz bedauerte es ein bißchen, daß sie so benebelt war. Sie hätte den Augenblick, in dem Ohlsberg seine Grenzen kennenlernte, gerne genossen. »Also?« fragte Stefan, als Ohlsberg nicht sofort auf seine Worte reagierte. »Was gedenken Sie zu unternehmen?«
Liz spürte, wie schwer es ihm fiel, seine Stimme so weit unter Kontrolle zu halten, daß er nicht sofort wieder losbrüllte. Er war die halbe Nacht in sinnloser Wut über das Grundstück gelaufen, aber natürlich hatte er nichts gefunden; nicht einmal Spuren. Falls es überhaupt welche gegeben hatte, so hatte er sie mit seinem rastlosen Herum irren gründlich verwischt. Ohlsberg wußte das, hatte es aber wohl vorgezogen, kein Wort darüber zu verlieren, um Stefan nicht noch mehr zu reizen. »Ich kann im Augenblick nicht viel unternehmen, Herr König«, sagte Ohlsberg vorsichtig. Er sprach langsam, als überlege er sich jedes einzelne Wort, bevor er es aussprach. Wahrscheinlich tat er es auch. »Natürlich werde ich weitere Nachforschungen anstellen lassen. Die Polizei wird ein paar Leute in der Umgebung verhören, und ich... werde auch die Ohren offen halten. Aber ich will Ihnen nicht zu viel Hoffnung machen. Fälle wie diese werden selten... aufgeklärt.« Er räusperte sich, sog nervös an seiner Pfeife und suchte nach einem Aschenbecher. Er rauchte hastig, ungewöhnlich hastig für einen Pfeifenraucher, und Liz hatte den Eindruck, daß er es einzig deswegen tat, um seine Hände zu beschäftigen und etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte.
Sie stand auf und brachte ihm einen Aschenbecher. Ohlsberg bedankte sich mit einem neuerlichen irritierten Blick und einem stummen, allerdings rein automatischen Kopfnicken, sah nervös auf die Uhr und begann unruhig auf und ab zu gehen. »Wir müssen natürlich auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß es ein Tier gewesen ist«, sagte er in der umständlichen Art eines Menschen, der diese Art des Redens nicht gewohnt war und vorsichtshalber ein wenig zu dick auf trug. Dafür aber ohne große Überzeugung.
Stefan schnaubte. »Ein Tier, meinen Sie? Was für ein Tier wäre Ihrer Meinung nach fähig, so etwas zu tun? Ein Grizzlybär? Oder vielleicht lieber ein Dinosaurier?« Seine Stimme troff vor Sarkasmus. Liz warf ihm einen warnenden Blick zu, aber er schien es gar nicht zu bemerken.
Ohlsbergs Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Bitte, Herr König - ich verstehe ja Ihre Erregung. Aber so kommen wir doch nicht weiter. Und ich bin schließlich kein Polizist, sondern...«
Es war nur ein schwacher Versuch, zum Gegenangriff überzugehen - und ein ziemlich dummer dazu. Ohlsberg schien ungefähr so viel Einfühlungsvermögen zu haben wie ein Vorschlaghammer. Aber wenigstens war er klug genug, sofort abzubrechen, als Stefan mitten im Schritt herumfuhr und ihn an funkelte. »Kein Polizist, so?« brüllte er. »Nein, das sind Sie nicht, Ohlsberg! Sie sind nur jemand, der sich wichtig macht, der sich aufführt, als gehöre ihm die ganze Stadt! Gut!« Er machte eine wütende Bewegung mit beiden Händen. »Vielleicht ist es so. Aber dann sorgen Sie, zum Teufel noch mal, auch dafür, daß eine solche Schweinerei nicht passiert!«