»Bitte, Herr König«, sagte Ohlsberg leise. »So kommen wir doch nicht weiter!« Stefan nickte wütend. »Ganz recht, so kommen wir nicht weiter. Wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig.« Erfuhr herum, ging zum Fenster, sah einen Herzschlag lang hinaus und wandte sich dann wieder an den Alten. »Ich weiß jedenfalls, was ich jetzt tun werde«, sagte er dumpf. »So?« machte Ohlsberg. Dieses eine Wort klang nervöser als alles, was er zuvor gesagt hatte. Wieder warf er Liz einen raschen Blick zu, und diesmal wirkte er fast flehend.
»Ja«, sagte Stefan aufgebracht. »Ich werde noch heute in die Stadt fahren, mir ein Gewehr kaufen und jeden über den Haufen schießen, der unangemeldet einen Fuß auf mein Grundstück setzt. Jeden, verstehen Sie?«
Ohlsberg sah ihn einen Moment nachdenklich an. Natürlich waren Stefans Worte nicht so ernst gemeint, wie sie sich anhörten. Und er wußte es. Er schien irgend etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich an Liz. »Vielleicht sollten Sie für ein paar Tage wegfahren«, sagte er. »Nur bis sich alles... etwas beruhigt hat.«
Liz war ein wenig irritiert, daß er den Mut aufbrachte, sie direkt anzusprechen - und zugleich beinahe dankbar für seinen Vorschlag. Aber dann dachte sie an das letzte Mal, als sie von hier weggefahren waren. »Glauben Sie, das ändert noch etwas?« fragte sie. Ihre Stimme war leise und kaum zu verstehen. Sie hatte die Szene nur mit halbherzigem Interesse verfolgt; in der Art, in der man ein Theaterstück oder einen Film verfolgt, wohl wissend, daß einen das Ganze nichts angeht und man sicher ist, ganz egal, was auf der Bühne oder der Leinwand passieren mag. Genau genommen spürte sie überhaupt nichts mehr, was über bloßes körperliches Empfinden hinausging. Wenn sie an die schreckliche Szene der vergangenen Nacht zurückdachte, dann war in ihr nichts als eine große, dumpfe Leere, fast als gäbe es in ihrem Inneren plötzlich eine unsichtbare Mauer zwischen ihrem Bewußtsein und der realen Welt - oder dem, was die reale Welt zu sein schien - durch die nichts, absolut nichts hin durchdringen konnte. Selbst Ohlsbergs Hier sein ließ sie im Grunde kalt.
»Ich möchte hier nicht weg«, sagte sie, nach einer Weile. »Es würde nichts nutzen, wegzulaufen.«
Ohlsberg schien einen Moment ehrlich betroffen. Er hatte mit einer anderen Antwort gerechnet.
»Sie sind sehr mutig« sagte er leise. Irgend etwas, das sie sich nicht erklären konnte, schwang in seiner Stimme mit. Mitleid? Ja - die gleiche, sonderbare Art von Mitleid, die sie schon einmal in seiner Stimme gehört hatte, vor einer Woche, im Dorfkrug. »Aber Mut zum falschen Zeitpunkt kann Dummheit bedeuten«, fügte er hinzu. Stefan lachte humorlos. »Es wäre mir lieber, wenn Sie herausfinden würden, wer hinter diesem Terror steckt, anstatt hier große Worte zu schwingen.« Ohlsberg klopfte seine Pfeife aus, sammelte Tabaksbeutel, Feuerzeug und den altmodischen Pfeifenstopfer ein und verstaute alles in den Taschen seiner zerknautschten schwarzen Arbeitsjacke. »Ich denke, es ist besser, wenn ich Sie jetzt allein lasse«, sagte er nervös. »Ich werde auf dem Rückweg bei ein paar Leuten vorbeischauen. Vielleicht hat irgend jemand etwas gesehen oder gehört.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Stefan kalt. »Der nächste Nachbar sind Sie! Und der wiederum nächste wohnt in fünf Kilometern Entfernung. Ich wüßte nicht, was er hätte hören oder sehen können.«
Ohlsberg lächelte nervös, hielt Stefans bohrendem Blick eine halbe Sekunde lang stand und scharrte mit den Füßen. Dann erhob er sich, verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kopfnicken von Liz und ging hinaus. Sein Weggehen hatte viel von einer Flucht an sich.
Stefan starrte die geschlossene Tür hinter ihm feindlich an und ballte wütend die Fäuste. Seine Knöchel knackten.
»Nimm es ihm nicht übel«, sagte Liz. »Du darfst keine Wunder von ihm verlangen.« Stefan lachte trocken und vollkommen ohne Humor. »Natürlich nicht«, knurrte er. »Aber immerhin ist er dazu da, uns vor solchen Zwischenfällen zu schützen: Hast du deine Tabletten genommen?«
Liz blinzelte, verwirrt durch den plötzlichen Themenwechsel. Das Röhrchen mit den kleinen roten Pillen lag noch unberührt in ihrem Nachtschrank. Sie hatte sie nicht genommen. Und sie würde sie auch nicht nehmen. Sie wußte, daß Medikamente ihr nicht helfen würden.
»Ja«, sagte sie nach kurzem Zögern. Sie hatte keine Lust, mit Stefan zu streiten. Es klopfte, und Peter betrat das Zimmer, noch bevor Stefan »Herein« rufen konnte. »Herr Ohlsberg... geht«, sagte er stockend. Sein Blick irrte unstet durch den Raum, hierhin und dorthin, krampfhaft darum bemüht, nicht in Liz' Richtung zu blicken. Stefan bedankte sich mit einem stummen Kopfnicken und trat ans Fenster. Er schlug die Vorhänge beiseite und sah mit unbewegtem Gesicht zu, wie Ohlsberg in seinen schrottreifen Kübel wagen stieg und davonfuhr.
»Soll ich ...«, begann Heyning zögernd, brach aber dann ab, als fehle ihm schließlich der Mut, von sich aus das Wort zu ergreifen. »Ja?«
Peter druckste herum. Sein Blick streifte Liz. »Es ist...wegen des Hundes«, sagte er mühsam. »Soll ich ihn...begraben?«
Stefan nickte ungehalten. »Sicher. Schaufeln Sie irgend wohinter dem Haus ein Loch und legen Sie ihn hinein.« Er sah Liz an. »Und du solltest ausnahmsweise einmal auf das hören, was man dir sagt, und dich hinlegen. Du siehst aus wie der Tod persönlich.« Sie schüttelte unwillig den Kopf, stand aber trotzdem auf und ging zur Tür. Er wollte sie nicht hier haben, gut. Vielleicht war es besser, wenn sie ihn allein ließ; wenigstens solange, bis er sich beruhigt hatte. Ein Spaziergang auf dem Hof würde ihr genauso gut tun, als wenn sie sich zwei Stunden hinlegen und doch nicht einschlafen konnte. Stefans aggressiver Ton ihr gegenüber erschien ihr ungerecht, und er verletzte sie, aber sie konnte ihm noch nicht einmal wirklich böse sein. Er war wütend wegen allem, was in den letzten Tagen vorgefallen war, wütend, weil jemand sie - und damit indirekt auch ihn - angegriffen hatte. So wütend, daß nicht einmal sie vor seinem Zorn sicher war, obwohl sie doch eigentlich die Beschützte sein sollte.
»Verdammtes Arschloch«, sagte Stefan aufgebracht. Es dauerte einen Moment, bis Liz begriff, daß er noch immer über Ohlsberg sprach. »Das könnte ihm so passen«, er sprach mit verstellter Stimme weiter, um Ohlsberg zu verhöhnen : »Ein paar Tage von hier weggehen, nur bis sich alle sein wenig beruhigt hat. Ha!« Er funkelte die geschlossene Tür feindselig an, schlug die Faust in die geöffnete Linke und tat so, als spucke er aus. »Mistkerl, widerlicher.«
Liz war... verwirrt. Obwohl Swensens Droge die Welt noch immer rosarot färbte und sie in eine herrliche Leckt-mich-doch-alle-Stimmung versetzte, fiel ihr doch auf, wie falsch Stefans Worte in ihren Ohren klangen. Noch vor Tagesfrist hätte Stefan ihr mit dem, was er sagte - und vor allem der Art, wie er es sagte - aus dem Herzen gesprochen. Aber er hätte es eben nicht gesagt, und das war der feine Unterschied. Liz konnte nicht mehr beschwören, daß alles wirklich so gewesen war, wie sie geglaubt hatte: der Schatten, die Schritte auf der Treppe, das Böse, das von Stefan Besitz ergriffen hatte - aber irgend etwas war mit ihm geschehen in der vergangenen Nacht.
»Wieso bist du so wütend?« fragte sie. »Immerhin ist er hierhergekommen, um ...«
»... ein bißchen herumzuschnüffeln«, fiel ihr Stefan ins Wort. Er fuhr herum, und für einen winzigen Moment sah es aus, als wolle sich sein ganzer aufgestauter Zorn nun auf sie entladen. Aber dann beließ er es nur bei einem ärgerlichen Grunzen, drehte sich auf dem Absatz herum und stampfte zur Bar. Eiswürfel klirrten in seinem Glas, als er einen mindestens vierstöckigen Martini ein kippte. Er leerte das Glas, ohne sich herum zudrehen und in einem einzigen Zug. Und da war irgend etwas, das Liz innerlich... ja, es gab keinen anderen Ausdruck: das sie innerlich zurückprallen ließ. Das Gefühl war zuerst da, dann, nach Sekunden, in denen sie einfach dastand und ihn mit einer Mischung aus Schrecken und scheinbar vollkommen unbegründetem Entsetzen angestarrt hatte, begriff sie auch verstandesmäßig, was es war: seine Art, zu trinken.