»Ich sage doch, jeder erzählt etwas anderes, und ich weiß nicht genau, was... was wirklich geschehen ist, damals.«
Liz seufzte. »Aber irgend jemand weiß es«, behauptete sie. »Jemand in Schwarzenmoor. Ohlsberg zum Beispiel.«
»Vielleicht«, antwortete Peter gequält. Sein Gesicht zuckte, und in seinen Augen flackerte Angst, nackte Angst. Angst vor...
Ja, vor was eigentlich? fragte sich Liz. Was gab es auf diesem Hof oder oben in Schwarzenmoor, das ihn so in Schrecken versetzte? Sie leerte ihr Glas mit einer ruckhaften, fast zornigen Bewegung, stellte es auf den Kaminsims und fuhr sich glättend mit den Fingern über den Rock.
»Ich werde Sie nicht weiter quälen, Peter«, sagte sie ruhig. »Aber ich werde herausfinden, was hier gespielt wird, das verspreche ich Ihnen. Und wer immer dafür verantwortlich ist, wird bezahlen.«
»Ma'am, ich ...«
»Sie, brauchen nichts zu sagen, Peter«, fiel ihm Liz ins Wort. »Ich weiß, daß Sie es ehrlich meinen. Aber irgendjemand anderes meint es hier nicht ehrlich. Und ich werde herausfinden, wer.«
Peter schien etwas sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem stummen Achselzucken und stand auf. »Kann ...kann ich gehen?« fragte er stockend. Liz nickte, hielt ihn aber mit einer Handbewegung zurück, als er zur Tür gehen wollte. »Öffnen Sie das Scheunentor«, sagte sie knapp. »Ich werde noch einmal wegfahren.«
»Sie... wollen...« Warum erschreckte ihn dieser Gedanke so? Sie sah deutlich, wie er erbleichte.
»Nach Schwarzenmoor«, nickte Liz. »Wenn es außer Ohlsberg niemanden gibt, der mir die Wahrheit erzählen kann, dann werde ich mich eben an ihn wenden.« Sie erschrak ein bißchen, als sie begriff, was ihr da herausgerutscht war. Ohlsberg hatte ihr eingeschärft, mit niemandem über ihre Verabredung zu sprechen. Aber wahrscheinlich war Peter der einzige Mensch auf dem Hof, dem sie noch trauen konnte.
»Aber Sie ...«
»Ja?« machte Liz lauernd, als Peter mitten im Satz abbrach und betreten zu Boden starrte. »Was wollten Sie sagen, Peter?«
»Nichts«, murmelte er beinahe unhörbar. »Es ist...nichts.«
Liz lächelte, aber es war ein dünnes, hartes Lächeln, ohne die geringste Spur von Humor. »Dann machen Sie den Wagen fertig«, sagte sie ruhig. Peter nickte, öffnete die Tür und ging hastig davon.
Liz wartete, bis die Haustür mit dumpfem Geräusch hinter ihm ins Schloß gefallen war. Sie war ganz nahe gewesen, diesmal, das spürte sie. Eine Kleinigkeit hatte noch gefehlt, eine winzige Kleinigkeit, und Peter hätte ihr alles gesagt.
Alles ... sie wiederholte das Wort ein paar mal in Gedanken, konnte ihm aber seinen beunruhigenden Klang nicht ganz nehmen. Alles was? fragte sie sich. Was erwartete sie eigentlich? Daß es hier spukte? Daß irgendein dunkler alter Fluch über dem Anwesen lag? Sie versuchte vergeblich, irgend etwas wie Belustigung in sich festzustellen. Es gab keine Geister, keine Gespenster und schwarze Magie, das wußte sie, Und trotzdem... Sie hatte in den letzten Tagen zuviel erlebt, zu viel, was sich nicht mit Logik und Naturgesetzen erklären ließ, zu viel, um...
Sie verscheuchte den Gedanken mit einem ärgerlichen Kopfschütteln, trank noch einen Schluck Brandy (nur einen winzigen, um den üblen Geschmack, der sich plötzlich in ihrem Mund festgesetzt hatte, loszuwerden) und verließ dann das Wohnzimmer. Sie ging zur Haustür, zögerte dann und wandte sich noch einmal um, um ins Schlafzimmer hin aufzugehen und sich umzuziehen. Ein Geräusch ließ sie auf der untersten Treppenstufe verharren. Sie wußte nicht, was es war - ein Laut eben, der von irgendwo aus dem hinteren Teil des Hauses heraus drang -, aber irgend etwas beunruhigte sie daran. Sie zögerte sekundenlang, drehte sich dann langsam und beinahe gegen ihren Willen um und ging den Weg wieder zurück, den sie gekommen war. Von oben drang das Rattern von Stefans Schreibmaschine herab, aber das besagte nichts. Er konnte wer-weiß-wo sein, während sein elektronischer Sklave oben für ihn arbeitete.
Sie blieb stehen, lauschte und ging dann sehr langsam weiter. Das Geräusch wiederholte sich. Es schien aus dem Bad zu kommen. Sie ging weiter, legte die Hand auf die Türklinke zur Seitendiele, drückte sie halb herunter und zögerte erneut. Wahrscheinlich badete Stefan, und sie war wiedereinmal dabei, sich lächerlich zu machen.
Aber das ungute Gefühl in ihrem Inneren blieb.
Sie zuckte die Achseln, drückte die Klinke vollends herunter und trat in den schmalen, halbdunklen Gang. Für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, eine Bewegung in den Schatten an seinem Ende zu sehen, und für den Bruchteil einer Sekunde bildete sie sich sogar ein, Schritte zu hören.
Unsinn, dachte sie. Fang nicht schon wieder an! Peter war draußen auf dem Hof, und Stefan hatte keinen Grund wegzulaufen, wenn sie kam. Sie mußte sich getäuscht haben.
Die Geräusche aus dem Badezimmer waren jetzt ganz deutlich zu hören. Jemand saß in der Badewanne. Sie trat an die Tür, wollte anklopfen und stellte fest, daß sie einen Spaltbreit offen stand.
Es war Andy. Sie saß - mit dem Rücken zur Tür und bis zum Nacken in einem Berg von Badeschaum verschwunden - in der Wanne und schöpfte sich Wasser ins Gesicht. Liz blieb unwillkürlich stehen, um das Mädchen zu beobachten.
Die Art, in der sie badete, zeigte ihr, daß Vergnügen dieser Art nicht alltäglich für sie waren. Vielleicht hatte es im Haus der Starbergs so etwas wie eine Badewanne überhaupt nicht gegeben.
Das Mädchen bewegte sich, stemmte sich auf dem Wannenrand hoch und erhob sich auf die Knie, um nach der Seife zu angeln. Für einen Moment konnte Liz sie deutlich sehen. Andy war kein Kind mehr; zumindest nicht körperlich. Sie war eine junge Frau, aber nicht mager, mit kleinen festen Brüsten, flachem Bauch und schon sehr fraulich gerundeten Schenkeln.
Erneut fielen ihr die Schritte ein, die sie zu hören geglaubt hatte. Nein: sie mußte sich getäuscht haben. Außer Stefan und Peter war niemand auf dem Hof. Peter war vor ihren Augen aus dem Haus gegangen, und Stefan - nun, Stefan würde sich sicherlich nicht hier herunter schleichen und dem Mädchen beim Baden zusehen.
Sie trat lautlos zurück, zog die Tür hinter sich zu und verließ das Haus. Aber irgend etwas Seltsames, etwas wie ein bitterer Nachgeschmack auf der Zunge blieb. Sie war sicher, sich die Geräusche und die Bewegung nicht nur eingebildet zu haben. Aber sie würde Stefan einfach danach fragen; später. Wenn sie aus Schwarzenmoor zurück war.
Falls sie zurück kam.
36.
Die Entscheidungsschlacht mit Ohlsberg fand nicht statt. Er kam nicht.
Es war kurz vor acht, als sie am vereinbarten Punkt eintraf, ziemlich genau eine Stunde vor Dunkel werden, aber das einzige, was da war, war die verbrannte Eiche, die wie ein verknorpelter Riesenzeigefinger in den Himmel ragte.
Sie fuhr den Wagen rechts an den Straßenrand, so weit wie es gerade noch ging, ohne daß sie sich am Unterholz den Lack zerkratzte, schaltete den Motor ab und ließ das Verdeck zurückklappen. Ihre Hände zitterten ganz sacht, als sie eine Zigarette aus der Packung nahm und das Feuerzeug aufschnappen ließ. Dabei hatte sie jetzt gar keine Angst mehr;ihre Auseinandersetzung mit dem Was-auch-immer war in ein Stadium getreten, das Angst nicht mehr zuließ. Irgendwie hatte es eine andere, schrecklichere Qualität angenommen, seit der vergangenen Nacht. Aus dem Spiel war Ernst geworden. Banshee-Stefan hatte genug von den harmlosen Streichen; es machte ernst. Trotzdem hatte sie keine Angst. Aber sie war verstörter denn je.
Während des gesamten Weges hier heraus hatte sie versucht, sich einen Schlachtplan zurecht zulegen, aber es war ihr nicht gelungen; im Gegenteil. Mit jedem Kilometer, den sie zurückgelegt hatte, war ihre Verwirrung gewachsen, bis sie sich schließlich fragte, was, zum Teufel, sie überhaupt hier tat.
Sie machte sich keine Illusion: Die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgend etwas anderes erreichte, als nur Ohlsberg noch mehr zu reizen, lag irgendwo in der Nähe von Null. Aber vielleicht reichte das ja schon. Die Auseinandersetzung zwischen ihr und Ohlsberg war in den letzten Tagen eskaliert, und der Punkt, an dem einer von ihnen aufgeben mußte, war nicht mehr allzu weit. Und Liz hatte nicht vor, dieser eine zu sein. Trotzdem hatte sie ein sehr ungutes Gefühl, als sie die Zigarette ausdrückte, sich eine neue anzündete und auf die Uhr sah. Zehn Minuten - zehn Ewigkeiten. Aber gut, nach allem auch noch Pünktlichkeit von Ohlsberg zu erwarten, wäre vielleicht ein bißchen viel verlangt. Sie war nicht einmal sehr sicher, ob sie überhaupt wollte, daß er kam.