»Der ist nicht da«, antwortete Belderson. So schnell, dachte Liz, als hätte er die Frage erwartet.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß. Aber vielleicht können Sie mir sagen, wo er wohnt. Ich kann schlecht an alle Türen klopfen und nach ihm fragen, oder?« Die scherzhafte Bemerkung verpuffte wirkungslos. Sie war auch nicht sehr gut gewesen. Liz zog nervös an ihrer Zigarette.
»Sie verstehen mich nicht«, antwortete Belderson ruhig. »Er ist nicht im Ort.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich wüßte es, wenn er da wäre«, sagte Belderson. »Soviel ich weiß, wollte er zu Ihnen hin ausfahren, heute morgen. Ihr Mann hat angerufen.«
Liz nickte. »Er war da. Aber wir... er wollte sich noch einmal mit mir treffen, und...«
»Er wird seine Gründe haben, wenn er nicht gekommen ist«, sagte Belderson, als sie nicht weiter sprach. Liz zögerte. Sein Blick, seine dreimal vermaledeite Ruhe machten sie nervös. Fast rasend. Woher wußte er so genau, daß Ohlsberg nicht im Ort war? »Vielleicht können Sie mir auch helfen«, sagte sie schließlich. »Sicher sogar.« Belderson nickte und stützte sich mit den Hand ballen auf der Theke auf. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie groß er wirklich war. Ein Mann wie er, dachte sie, sollte Schmied oder Holzfäller sein, nicht Krämer.
»Bitte.«
»Sie kennen sich doch in der Umgebung aus«, begann sie ungeschickt.
Belderson nickte. Auf seinem Gesicht war noch immer nicht zu erkennen, was er dachte, aber in seinen Augen schien ein winziges, mißtrauisches Feuer aufzuglühen. In der blassen Beleuchtung des Ladens wirkten sie gelb.
Unsinn, dachte sie, wütend auf sich selbst. Ich beginne schon, an jeder Ecke eine Verschwörung zu wittern. »Ich ...« Sie lächelte. »Es wird Ihnen sicher albern vorkommen, aber ich wollte Ohlsberg fragen, ob es so etwas wie ein Gemeindebuch gibt.«
»Ein Gemeindebuch?« Das mißtrauische Funkeln in seinen Augen wurde stärker. Ein ganz kleines bißchen wirkte er plötzlich gespannt. Nein - nicht gespannt: angespannt, wie ein lauerndes Raubtier.
Liz lächelte entschuldigend und sog an ihrer Zigarette. »Ein Buch, in dem alles aufgeschrieben wird, was hier so geschieht. Eine« - sie suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort - »eine Chronik.«
»Eine Chronik?« Belderson runzelte die Stirn und überlegte einen Moment lang angestrengt. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube kaum. Hier geschieht nicht oft etwas. Und wenn doch«, sagte er lächelnd und zum ersten Mal in anderem als geschäftsmäßig freundlichem Ton, »dann merken es sich die Menschen auch so. Je weniger geschieht, desto aufregender ist das, was geschieht«, sagte er.
Liz lächelte pflichtschuldig. »Vielleicht macht das die Sache noch einfacher«, sagte sie. »Es geht um unseren Hof. Besser gesagt, um das alte Gesindehaus. Es ist irgendwann einmal niedergebrannt, glaube ich. So vor dreißig Jahren«.
»Zweiunddreißig«, sagte Belderson.
Es fiel Liz nicht einmal schwer, Überraschung zu heucheln. »Sie wissen davon?« fragte sie.
»Natürlich. Es war...« Er suchte nach Worten. »... eine aufregende Sache, wissen Sie. Wie ich schon sagte - es geschieht nicht viel, aber was geschieht, das merken sich die Leute. Und ich bin da keine Ausnahme. Das Haus brannte damals nieder. Es war schlimm.«
»Kam ... jemand zu Schaden?« fragte Liz vorsichtig. Belderson nickte. »Eine Frau«, sagte er. »Eine junge Frau. Sie hat als Magd auf dem Hof gearbeitet. Es gab eine Menge Gerüchte damals, aber...«
»Was für Gerüchte?« unterbrach ihn Liz.
»Gerüchte eben. Wenn irgend etwas geschieht, was man sich nicht erklären kann, dann gibt es immer Gerüchte, wissen Sie. Ist das da, wo Sie herkommen (und hingehören, sagte sein Blick), nicht so?«
»Doch. Es ist ganz genauso. Trotzdem würde es mich interessieren, was für Gerüchte es waren.«
»Man sagt«, erklärte Belderson mit überraschender Offenheit, »daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Das Mädchen soll ermordet worden sein. Aber es konnte nie bewiesen werden.« Das war dasselbe, was Peter gesagt hatte. Ein Mord. Aber gut - was war so schlimm daran?
Es war dreißig Jahre her.
»Hat die Polizei die Sache nicht untersucht?«
»Selbstverständlich. Sehr gründlich sogar, aber es ist nichts Verdächtiges dabei herausgekommen. Das Haus brannte bis auf die Grundmauern ab, aber das wissen Sie ja. Wenn an diesen Gerüchten irgend etwas dran ist und wenn es Beweisstücke gegeben hat, dann sind sie verbrannt. Die Leute hatten genug zu tun, den Hof zu retten. Aber ich persönlich glaube nicht, daß es ein Verbrechen war.«
»Weiß man, wie es zu diesem Feuer kam?«
Belderson schüttelte den Kopf. »Diese Häuser brennen sehr leicht«, sagte er. »Und wenn sie einmal richtig brennen, bleibt nicht mehr viel übrig, was man untersuchen kannte.«
Er lächelte wieder, richtete sich dann mit einem schlecht unterdrückten Gähnen auf und fragte: »War es das, was Sie wissen wollten?«
Nein, das war es nicht. Noch lange nicht. Trotzdem nickte sie. »Vielen Dank, Belderson. Sie... haben mir sehr geholfen.« Sie lächelte zum Abschied, drehte sich herum und ging in Richtung Ausgang. Und dann spürte sie, wie sich etwas veränderte.
Es war nichts Sichtbares. Ein Verschieben der Dinge hinter den Grenzen der Realität. Irgend etwas ... war plötzlich da, rastete mit einem fühlbaren Ruck ein. Oder etwas verschwand. Aber egal was es war, sie spürte die Veränderung bei Belderson, noch ehe sie sich herumdrehte und ihn ansah.
»Sie hätten nicht kommen sollen«, sagte er ruhig. »Nachdem, was Sie gestern getan haben, ist es nicht sehr klug von Ihnen, hierher zu kommen.«
Es war, als spräche sie jählings mit einem anderen Menschen. Er hatte sich nicht verändert, aber plötzlich war er so wenig der altbekannte Belderson, wie Stefan noch Stefan war. Nur daß sie nicht wußte, welches seiner verschiedenen Gesichter das richtige war. Stand sie jetzt einem Belderson-Banshee gegenüber, oder sah sie ihn nur zum ersten Mal so, wie er wirklich war. Was waren seine Worte? Drohung oder ehrlich gemeinte Warnung?
Sie schwieg sekundenlang. Irgendwie hatte sie das Gefühl, jedes Wort genau überlegen zu müssen.
»Sie wollen mir drohen.«
Belderson schüttelte den Kopf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkte beinahe ein bißchen traurig. Und mitleidig. Auf die gleiche, verwirrende Art mitleidig, auf die Ohlsberg sie angesehen hatte, heute morgen im Wald.
»Warum sind Sie so aggressiv?« fragte er.
Liz schürzte die Lippen. »Bin ich das?«
Er nickte. »Sie waren es vom ersten Tag an«, sagte er. »Sie verhalten sich nicht sehr klug, wissen Sie?«
»Ich will mich nicht klug verhalten!« fuhr Liz auf. »Alles, was ich will, ist meine Ruhe. Ich möchte in Frieden dort draußen leben und ...«
Belderson unterbrach sie mit einer geduldigen Bewegung seiner verbrannten Hand. »Sie hätten nicht kommen sollen, wenigstens nicht heute, Frau König«, sagte er sanft. »Die Leute hier sind ziemlich aufgebracht. Die Starbergs haben eine Menge Freunde in Schwarzenmoor.«
»Und wir nicht.«
»Sie nicht«, bestätigte er ruhig. »Jetzt nicht mehr.« Das war es also - natürlich, was hatte sie erwartet? Wahrscheinlich gab es in Schwarzenmoor kein anderes Gesprächsthema mehr, seit gestern.
»Ich will nicht darüber reden«, sagte sie grob. »Ich hatte meine Gründe, es zu tun.«
»Ich weiß«, sagte Belderson. Es klang, als wüßte er es wirklich. Als wüßte er ganz genau, warum sie es getan hatte. Was geschehen war.
Liz starrte ihn zwei, drei endlose Sekunden lang wortlos an. Es war unlogisch, nach allem, was geschehen war, aber irgend etwas sagte ihr, daß er es ehrlich meinte. So wie Ohlsberg am Morgen. Ohlsberg, der verschwunden war. Der nicht zurückgekehrt war von seinem Besuch auf Gut Eversmoor.