Bis was? dachte sie verzweifelt. Gott, wenn sie doch wenigstens wüßte, was geschah, wovor sie überhaupt Angst haben mußte, was ...
Aber es gab ja jemanden, der es ihr sagen konnte!
Verdammt, sie hatte selbst das vergessen, obwohl es der eigentliche Auslöser gewesen war! Der Radiergummi in ihrem Kopf war sehr gründlich gewesen.
Sie fuhr herum, riß den Telefonhörer von der Gabel und tippte mit fliegenden Fingern die Nummer ein. Es war eine winzige Chance, so klein, daß sie im Grunde selbst kaum daran zu glauben wagte, aber es war eine Chance.
Diesmal war die Leitung nicht tot, aber die Zeit schien sich endlos zu dehnen, während sie auf das monotone Tuten des Freizeichens lauschte. Sie zählte das Klingeln am anderen Ende der Leitung mit: fünf, zehn, elf... Was, wenn Gabi einfach so tief schlief, daß sie das Schrillen des Apparates nicht hörte, und irgend so ein verdammter Computer der Post die Leitung kappte, ehe sie wach wurde, oder...
Mitten in diesem Gedanken vernahm sie ein scharfes Klicken, dann meldete sich eine sehr verschlafene Gabi und fragte knurrig, wer da um diese gotteslästerliche Zeit bei ihr anrief.
»Ich bin's, Liz«, unterbrach sie sie. Sie ließ sie nicht einmal zu Ende sprechen. Sie hätte ihr Zeit geben müssen, um wenigstens halbwegs wach zu werden, aber sie hatte diese Zeit nicht. Ihr Leben vertickte mit jedem winzigen Ruck des Sekundenzeigers, jedes überflüssige Wort schmälerte ihre Chance. »Tut mir leid, wenn ich dich um ....« Sie sah auf die Armbanduhr und erschrak selbst ein bißchen. »... um halb sechs aus dem Bett klingele, aber es ist wichtig.«
Gabi schwieg einen Moment, aber als sie weiter sprach, klang ihre Stimme vollkommen verändert. Da war keine Spur mehr von Müdigkeit und erst recht keine Verärgerung, dafür etwas anderes: ein sonderbar betroffener Ton und eine schwache, aber durchaus hörbare Spur von Hysterie. »Was ist los? Ist irgend etwas passiert, vorgestern? Warum habt ihr nicht angerufen. Stefan hatte versprochen, mir Bescheid zusagen, ob ihr gut angekommen...«
»Das sind wir«, unterbrach sie Liz. »Es ist nichts passiert keine Sorge. Aber ich muß mit diesem Mädchen sprechen. Ich... ich brauche ihre Nummer.«
Wieder antwortete Gabi nicht gleich, und Liz fügte hastig hinzu: »Ich weiß, es ist eine irrsinnige Zeit, jemanden anzurufen, aber es ist wichtig. Sie wird mich verstehen, wenn ich ihr erklärt habe, was ...«
»Darum geht es nicht«, unterbrach sie Gabi. Ihre Stimme war jetzt ganz klar, und sie sprach sehr ruhig. Trotzdem war jener sonderbare Unterton viel deutlicher geworden. »Ich ...ich kann dir ihre Nummer geben, Liz, aber du wirst sie nicht erreichen.«
Liz verstand nicht gleich, was Gabi meinte. In den letzten Tagen waren Schrecken und Furcht so sehr zu einem Teil ihres Lebens geworden, daß sie den hysterischen Ton in ihrer Stimme gar nicht mehr registrierte. »Dann geh hinunter und ruf sie ans Telefon, bitte«, sagte sie. »Ich muß sie sprechen, Gabi. Es ist furchtbar wichtig.«
»Ich kann sie nicht holen, Liz«, sagte Gabi.
»Aber du ...«
»Sie ist tot.«
ODER MEINST DU VIELLEICHT DEINE NÄRRISCHE KLEINE FREUNDIN, DIE MIT DINGEN SPIELT, VON DENEN SIE NICHTS VERSTEHT?
Es war das - die Worte der Kreatur im Wasser -, was sie zuerst hörte, noch bevor der Schrecken kam und sich wie eine feucht kalte Hand um ihr Herz legte. Tot? »Tot?« flüsterte sie. »Aber... mein Gott, was...«
»Es war ein Unfall, Liz«, sagte Gabi leise. Ihre Stimme zitterte. Ganz entfernt registrierte Liz, daß sie sich wohl getäuscht haben mußte, was Gabis Verhältnis zu Stefanie betraf - die beiden schienen sich weit mehr gemocht zu haben, als sie bisher an nahm.
»Ein... Unfall?«
»Ja. Ein entsetzlicher Unfall, Liz. Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Die Polizei untersucht den Fall, aber ich... ich glaube, sie sind auch ratlos.«
»Was ist passiert?« flüsterte Liz. Sie erschrak fast vor ihrer eigenen Stimme. Etwas spannte sich in ihr zusammen, tief, tief in ihr, etwas wie eine stählerne Feder, die mehr und mehr zusammengepreßt wurde. Wenn sie sich entspannte, würde sie sie zerreißen. »Es gab... eine Art Kurzschluß«, antwortete Gabi stockend. »Sie hat... telefoniert, und der Strom muß irgendwie in die Leitung gekommen sein. Ich weiß, das ist unmöglich, aber so war es. Mein Gott, Liz, es war schrecklich. Walter ist... ist zuerst zu uns gekommen, und ich...ich habe sie gesehen. Ihr Gesicht... ihr ganzes Gesicht war...«
»Wann war das?« fragte Liz.
»Wann?« Gabi überlegte zwei, drei Sekunden. »Gestern nacht. Kurz nach Mitternacht. Vielleicht etwas später.«
Liz hängte ein. Sie war ganz ruhig. Nein, nicht ruhig - sie war am Rande einer Panik, aber was sie im Moment spürte, kam einer Lähmung gleich. Irgendwo in ihrem Gehirn mußte eine Sicherung herausgesprungen sein. Die Leitungen, die für Furcht und Entsetzen zuständig waren, waren vorübergehend außer Betrieb.
Aber nicht für sehr lange. Der Lead-Sänger von Accept sang zum dritten Mal hintereinander Heaven is there, where hell is, als das Telefon auf ihrem Schoß schrillte. Liz hob sofort ab, überzeugt, daß es Gabi war, die zurück rief, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei.
Aber es war nicht Gabi.
Es war die Banshee, eine Banshee mit einem gewaltigen Daumen, der die Sicherung in ihrem Schädel erbarmungslos wieder hin eindrückte. Klick.
DAS WAR SEHR UNHÖFLICH VON DIR, sagte eine wohlbekannte Stimme. Liz sprang so abrupt auf, daß das Telefon zu Boden fiel.
MAN HÄNGT NICHT MITTEN IM GESPRÄCH EIN, OHNE WENIGSTENS AUF WIEDERSEHEN ZU SAGEN, OPFER. Diesmal war die Stimme in ihrem Kopf. Liz stieß einen halb erstickten Schrei aus, taumelte zum Plattenspieler und riß die Lautstärkeregler mit einem Schlag bis zum Anschlag hoch. Sie mußte diese entsetzliche STIMME übertönen.
Der Lärm war unbeschreiblich. Es war Stefans Anlage, und wie alles, was er anschaffte, mußte es das Größte und Beste sein, was es für Geld zu kaufen gab. Vierhundert Watt Musik schlugen über ihr zusammen, brachten die Gläser auf dem Regal zum Klirren und verwandelten den Raum in ein Inferno aus kreischenden Tönen und hämmernden, nervenzerfetzenden Trommelschlägen. Der kratzende Säuferbaß des Accept-Sängers schwoll zum Brüllen eines Gottes an:Heaven is there, where hell ist, Heaven is there, where hellis, Heaven is there, where hell is - immer und immer wieder, als hätte die Platte einen Sprung, obwohl es eine CD war und gar nicht hängen konnte, und der Geräuschorkan traf sie wie ein körperlicher Schlag. Ihre Hand zuckte automatisch zum Regler, aber sie führte die Bewegung niemals zu Ende. Die dröhnende Musik aus den über steuerten Lautsprechern löschte die STIMME aus, brachte ihren Schädel zum Schweigen, Schmerzen pulsierten hinter ihrer Stirn, in ihren Zähnen und Augen, aber sie war gleichzeitig Rettung, ein winziger Strohhalm, der sie noch davor bewahrte, in den Wahnsinn abzugleiten. Wimmernd, die Hände gegen die Schläfen gepreßt, sank sie zu Boden. Sie wußte, daß sie den Verstand verlieren würde, wenn sie jetzt abschaltete. Alles um sie herum war Bedrohung, fremd, ein Teil jenes Alptraumes, den sie seit Tagen durchlebte. Es gab nur noch die Musik, an die sie sich klammern konnte. Heaven is there, where hell is, du dämliche Ziege, begreif das endlich, Heaven is there, where hell is, es gibt keine Rettung, nicht vor IHM,Heaven is there, where hell is!
Eine Berührung an der Schulter ließ sie zusammenfahren. Sie sah auf und erkannte durch einen Schleier von Tränen Stefans Gesicht. Er bewegte die Lippen, deutete auf sie und auf den Verstärker und sagte etwas, aber sie konnte die Worte nicht verstehen. Stefan schüttelte den Kopf, richtete sich auf und drehte die Musik leiser. Nach dem ungeheuerlichen Dröhnen war sie fast taub. Obwohl er schrie, konnte sie ihn kaum verstehen. In ihren Ohren war ein dumpfes an und ab schwellendes Rauschen.