Sie schob den Stuhl beiseite, drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür. Heyning huschte mit einer raschen Bewegung ins Zimmer, drückte die Tür wieder ins Schloß und drehte den Schlüssel herum. Er atmete erleichtert auf.
»Was wollen Sie?« fragte Liz schwach. Sie wußte nicht einmal mehr, ob sie ihm trauen konnte.
Peter legte warnend den Zeigefinger über die Lippen. »Leise, Ma'am. Ihr... Ihr Mann könnte uns hören!«
»Und?«
Peter sah mißtrauisch in die Runde, als befürchte er, Stefan doch noch irgendwo zu sehen. Er war sehr blaß.
»Was wollen Sie?« fragte Liz zum zweiten Mal. Ihr wurde schwindelig. Als sie die Tür geöffnet hatte, hatte sie gehört, daß der Plattenspieler unten im Wohnzimmer noch immer lief, und es war noch immer die gleiche Platte Heaven And Hell. Ein Omen? Nein. Was war die Steigerung des Wortes Omen? Peter sah sie unsicher an. Er war nervös, wie immer, wenn sie mit ihm sprach, und er hatte Angst, fast so viel Angst wie sie. Aber sie spürte auch, daß er trotzdem zu allem entschlossen schien. Sie erinnerte sich, daß Stefan einmal gesagt hatte, Feiglinge, die zu weit getrieben wurden, könnten zu den größten Helden werden. Die Waffe des DINGs im See war zweischneidig, denn Verzweiflung konnte auch Kraft geben.
»Also?« Sie bemühte sich wenigstens, halbwegs gefaßt zu klingen, und redete sich ein, daß er ihr blaugeschlagenes Gesicht nicht bemerken würde.
»Ich, ich habe alles gesehen«, sagte er schließlich. Seine Stimme schwankte, und sie spürte, wie schwer, wie unglaublich schwer es ihm fiel, dieses Geständnis zu machen. Aber selbst das konnte sie nicht mehr treffen. Die Erniedrigung war total gewesen; es gab nichts mehr, womit man sie jetzt noch hätte demütigen können. Stefan hätte es genausogut auf dem Marktplatz von Schwarzenmoor tun können. »Haben Sie das?«
Er nickte. »Ich konnte nicht eher kommen. Sie... waren die ganze Zeit unten. Im Wohnzimmer.«
»Sie?«
»Ihr Mann und ...« Er ballte die Faust, sprach aber nicht aus, was er eigentlich hatte sagen wollen. Liz fühlte sich schuldig. Stellvertretend für Stefan empfand sie Scham und Ekel, nicht nur vor ihm, sondern auch vor sich selbst.
»Sie müssen weg«, sagte Peter plötzlich.
»Muß ich das?« Konnte sie das überhaupt noch?
Er nickte, ungeduldig und ängstlich zugleich. »Sie ... sind in Gefahr«, wiederholte er. »Sie müssen weg hier.«
Liz lächelte, setzte sich auf die Bett kante und zog die Knie an den Körper. Ihr Blick wurde leer. »Nein«, sagte sie ruhig, aber die Worte galten weniger Peter als ihr selbst. Die Banshee würde sie nicht fortlassen. »Ich bin nicht in Gefahr. Jetzt nicht mehr. Aber das können Sie nicht verstehen, Peter.« Es gab nichts mehr, was sie noch treffen konnte. Alles, was sie einmal geliebt hatte, all das, was einmal ihre Welt, ihr Leben ausgemacht hatte, war zerstört. Vernichtet, unwiederbringlich fort. Nicht einmal der Tod konnte sie noch erschrecken. Sie wunderte sich fast, daß sie so kalt und emotionslos über ihre Lage nachzudenken imstande war. Wenn sie die Ereignisse der vergangenen Tage an sich vorüberziehen ließ, dann erschien es ihr beinahe, als wäre all dies nicht ihr geschehen, sondern einer anderen, fremden Liz. Einer Liz, mit der sie wenig mehr als den Namen gemein hatte. Schock,dachte sie. Das muß das sein, was sie meinen, wenn sie sagen, jemand steht unter Schock. Es war seltsam, wie leichtes zu ertragen war.
»Bitte, Ma'am!« Peters Stimme nahm einen gehetzten Klang an. »Wir müssen fort, bevor es dunkel wird!«
Bevor es dunkel wurde? Aber die Sonne ging doch gerade erst auf .»Warum?« Erst danach fiel ihr auf, daß er wir gesagt hatte, nicht Sie.
»Bitte! Ich ... ich erkläre es Ihnen unterwegs. Glauben Sie mir!«
Liz lächelte sanft. »Jetzt.«
»Es ist keine Zeit mehr.«
»Doch«, sagte sie ruhig. »Es ist Zeit. Erzählen Sie.«
Peter rang verzweifelt mit den Händen. »Sie... hätten niemals hier herkommen dürfen«, sagte er schließlich. Die Art, in der er die Worte aussprach, schien Erklärung genug zu sein, wenigstens für ihn. Er trat ein paar mal unschlüssig von einem Bein auf das andere, griff dann in die Jackentasche und hielt ihr ein kleines, braunes Lederetui hin. Liz' Augen weiteten sich ungläubig. »Die Wagenschlüssel!«
»Ich habe sie Ihrem Mann gestohlen«, gestand Peter. »Er hat es nicht gemerkt.« Liz fragte Peter lieber nicht, wie er an Stefans Jacke gekommen war, ohne daß er es merkte. Und der Anblick der Schlüssel gab ihr für einen Moment sogar neuen Mut. Sie stand auf, streckte zögernd die Hand aus und sah Heyning durchdringend an. »Warum tun Sie das?« fragte sie. »Stefan wird Sie umbringen, wenn er es erfährt.« Sie meinte das ganz ernst. Er würde ihn töten. Ihn und sie. Peter wich ihrem Blick aus. »Weil Sie mir leid tun«, sagte er schließlich. Dann fuhr er herum, öffnete mit einem Ruck die Tür und trat auf den Gang hinaus.
Liz folgte ihm. Das Haus war still bis auf das monotone Dröhnen des Plattenspielers. Sie gingen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Die Hoftür stand offen. Eine kühle Brise wehte von draußen herein, bewegte die Vorhänge und ließ die Illusion von Leben in dem leeren Zimmer entstehen.
Sie sah, daß Peter ein paar Sachen gepackt und in einem Rucksack neben der Tür deponiert hatte, als bereitete er sich auf eine längere Flucht vor. Oder darauf, niemals wiederzukommen.
Die Sonne stand als schmaler, orangeroter Streifen über dem Horizont, als sie aus dem Haus traten. Peter schien alles gründlich vorbereitet zu haben - einer der großen Flügel des Scheunentores stand offen, das flache Haifischmaul des Jaguars lugte einen halben Meter hervor; ein schnelles, elegantes Raubtier, das sie in die Freiheit katapultieren würde.
Peter lief mit raschen Schritten vor ihr her, so schnell, daß sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Sie spürte, daß er Angst hatte. Auf den wenigen Metern vom Haus bis zur Scheune sah er sich ein halbes Dutzend Mal gehetzt um, als fürchte er, verfolgt zu werden.
Aber sie erreichten die Scheune unbehelligt. Liz fummelte mit zitternden Fingern am Kofferraum herum, wartete ungeduldig, bis Peter sein Gepäck verstaut hatte, und warf den Deckel unnötig hart zu. »Was ist mit Andy?«
Peter schüttelte den Kopf. »Sie bleibt hier. Ihr Mann würde es merken, wenn wir sie mitnehmen würden.«
»Hier?« wiederholte Liz ungläubig. »Hier bei Stefan? Sie wissen...«
»Ich weiß es«, antwortete er. »Aber es geht nicht anders. Er würde keinen von uns weglassen. Ich komme morgen mit Ohlsberg zurück und hole sie. Er wird ihr nichts tun. Und nun lassen Sie uns fahren...«
Es hätte viel gegeben, was sie hätte sagen können. Aber sie nickte nur stumm, setzte sich hinter das Steuer und drehte den Zündschlüssel herum. Der Motor erwachte dröhnend zum Leben. Liz schaltete die Scheibenwischer ein und trat die Kupplung. Und Stefan erschien unter der Tür.
Die Szene war so alptraumreif, als hätte Stefan sie sorgsam einstudiert. Die Banshee war ein perfekter Regisseur, Spielberg ein Stümper gegen sie: Stefan trat ohne eine Spur von Hast in die Scheune hinein, ein schwarzer tiefenloser Schatten vor dem Orange rot des Morgenhimmels, der von Liz' niedriger Sitzposition im Jaguar aus betrachtet noch größer und bedrohlicher wirkte. Er machte nur einen einzigen Schritt in die Scheune hinein, gerade weit genug, daß die grellen Licht bündel der Halogenscheinwerfer ihn erfaßten, blieb stehen und verschränkte mit einem siegessicheren Lächeln die Arme vor der Brust. Peter, der gerade im Begriff gewesen war, die Tür zu öffnen und sich auf den Beifahrersitz zu werfen, erstarrte mitten in der Bewegung. Für einen Moment glaubte Liz auf seinen Zügen echtes Entsetzen zuerkennen.
»Ihr wollt weg?« fragte Stefan im Plauderton. »So früh schon?«