»Als Tayends Schwester habe ich das starke Bedürfnis, ihn zu beschützen.« Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden. »Wenn Ihr ihn wirklich als Freund betrachtet, seid vorsichtig. Ich habe den Verdacht, dass er vollkommen vernarrt in Euch ist, Dannyl.«
Dannyl blinzelte überrascht. In mich? Ich bin Tayends heimliche Liebe? Er blickte zu dem leeren Stuhl hinüber. Kein Wunder, dass Tayend seinen Fragen ausgewichen war. Er empfand eine seltsame Freude. Es ist schmeichelhaft, von jemandem bewundert zu werden, sagte er sich.
»Das überrascht Euch«, bemerkte Mayrie.
Dannyl nickte. »Ich hatte keine Ahnung. Seid Ihr Euch sicher?«
»Ziemlich sicher. Normalerweise hätte ich nicht mit Euch darüber gesprochen, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Verleitet ihn nicht dazu, Dinge über Euch zu denken, die nicht der Wahrheit entsprechen.«
Dannyl runzelte die Stirn. »Habe ich das getan?«
»Nicht soweit ich das beurteilen kann.« Sie lächelte, aber in ihren Augen lag ein harter Ausdruck. »Wie gesagt, ich habe das starke Bedürfnis, meinen jüngeren Bruder zu beschützen. Ich wollte Euch nur warnen - und Euch eines wissen lassen: Falls mir zu Ohren kommen sollte, dass Ihr ihn in irgendeiner Weise verletzt, werdet Ihr Euren Aufenthalt in Elyne vielleicht weniger angenehm finden, als Ihr es gern hättet.«
Dannyl betrachtete sie eingehend. In ihrem Blick lag eine stählerne Schärfe, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie es ernst meinte.
»Was soll ich Eurer Meinung nach tun, Mayrie von Porreni?«
Ihre Miene entspannte sich, und sie klopfte ihm auf den Arm. »Nichts. Gebt einfach nur Acht. Mir gefällt, was ich bisher von Euch gesehen habe, Botschafter Dannyl.« Dann machte sie einen Schritt nach vorn und küsste ihn auf die Wange. »Wir sehen uns morgen beim Frühstück. Gute Nacht.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging zum Haus hinüber. Dannyl blickte ihr kopfschüttelnd nach. Offensichtlich hatte sie ihn eigens zu dem Zweck hierher geführt, ihm diese Warnung zukommen zu lassen.
Hatte Tayend den Besuch bei seiner Schwester vorgeschlagen, damit Mayrie eine Gelegenheit bekam, ihm das zu sagen? Hatte er geplant, dass seine Schwester ihm sein Geheimnis enthüllte?
»Er ist vollkommen vernarrt in Euch, Dannyl.«
Dannyl nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem Tayend zuvor gesessen hatte. Welchen Einfluss würde diese Enthüllung auf ihre Freundschaft haben? Er runzelte die Stirn. Wenn Tayend nicht wusste, dass seine Schwester Dannyl sein Interesse an ihm offenbart hatte, und wenn Dannyl sich weiter so benahm, als wüsste er nicht Bescheid, konnte alles beim Alten bleiben.
Aber ich weiß es, dachte er. Und dieses Wissen wird alles verändern.
Ihre Freundschaft hing davon ab, wie gut Dannyl mit dieser Neuigkeit fertig wurde. Er dachte über seine Gefühle nach. Er war überrascht, aber nicht entsetzt. Es freute ihn sogar ein wenig zu wissen, dass jemand ihn so sehr mochte.
Oder gefällt mir diese Vorstellung aus anderen Gründen?
Er schloss die Augen und schob den Gedanken beiseite. Er hatte sich diesen Fragen und ihren Konsequenzen schon einmal gestellt. Dannyl war ein Freund und konnte niemals etwas anderes sein.
Die Eingänge zu den geheimen Tunneln waren überraschend leicht zu finden. Die meisten lagen im inneren Teil der Universität, was durchaus einen Sinn ergab, da die Erbauer nicht gewollt haben konnten, dass Novizen sie zufällig entdeckten. Die Mechanismen zum Öffnen der Türen, die in den Holzpaneelen angebracht waren, lagen hinter Gemälden und anderen Verzierungen in den Wänden verborgen.
Gleich nach ihrem abendlichen Unterricht hatte Sonea sich auf die Suche danach gemacht, statt in die Bibliothek zu gehen. Die Flure waren ruhig, aber nicht vollkommen verlassen, weshalb sie zu dieser Zeit auch niemals auf Regin und seine Freunde traf. Sie zogen es vor zu warten, bis Sonea die Bibliothek verlassen hatte und sie sicher sein konnten, dass sich niemand mehr in der Universität aufhielt.
Trotzdem war sie sehr angespannt. Sie untersuchte mehrere der versteckten Türen, bevor sie den Mut aufbrachte, eine zu öffnen. Obwohl es spät war, bestand durchaus die Gefahr, dass sie beobachtet wurde. In einem wenig benutzten Teil der inneren Gänge wagte sie es schließlich, die Hebel hinter einem Gemälde umzulegen, das einen Magier mit Zeicheninstrumenten und einer Schriftrolle in Händen zeigte.
Das Paneel glitt lautlos nach innen, und kalte Luft strömte ihr entgegen. Auch in jener Nacht, als Fergun sie mit verbundenen Augen durch die Tunnel zu Cerys Gefängnis geführt hatte, hatte sie diese Veränderung der Temperatur wahrgenommen.
Hinter der Tür lag ein trockener, schmaler Gang. Sie hatte Feuchtigkeit erwartet, wie in den Tunneln unter der Stadt. Aber die Straße der Diebe befand sich in der Nähe des Flusses, während die Universität höher gelegen war - und natürlich konnte es im zweiten Obergeschoss keine Feuchtigkeit geben.
Da sie befürchtete, jemand könnte sie neben der geöffneten Tür stehen sehen, trat Sonea hastig hindurch. Als sie die Tür hinter sich zufallen ließ, tauchte sie den Tunnel damit in tiefe Dunkelheit. Einen Moment lang setzte ihr Herz aus, dann zuckte sie zusammen, als die Lichtkugel, die sie heraufbeschworen hatte, heller strahlte, als sie beabsichtigt hatte.
Bei der Untersuchung des Tunnels bemerkte sie, dass auf dem Boden eine dicke Staubschicht lag. In der Mitte war der Staub dünner, wo gelegentlich Menschen vorbeigegangen waren, aber ihre Stiefel hinterließen schwache Abdrücke, was bedeutete, dass seit einiger Zeit niemand mehr hier entlanggekommen war. All ihre Zweifel lösten sich in nichts auf. Sie würde niemandem sonst in den Tunneln begegnen; es stand ihr frei, sie nach Herzenslust zu erkunden. Ihre eigene Straße der Diebe.
Sie zog ihren Plan der Tunnel heraus und machte sich auf den Weg. Während sie weiterging, bemerkte sie noch andere Eingänge. Die geheimen Wege beschränkten sich auf die dickeren Mauern der Universität, daher waren sie in einem einfachen Muster angelegt, das man sich leicht einprägen konnte. Schon bald hatte sie das gesamte oberste Stockwerk des Gebäudes erkundet.
Sie hatte jedoch keine Treppen gesehen. Als sie ihre Karte noch einmal zu Rate zog, bemerkte sie die kleinen Kreuze hier und da. Sie ging zum Standort eines dieser Kreuze hinüber und untersuchte den Boden. Nachdem sie mit der Schuhspitze Staub beiseite gefegt hatte, legte sie einen Ritz frei.
Als Nächstes ging sie in die Hocke und schob den Staub mit leichten magischen Wischbewegungen beiseite. Wie sie vermutet hatte, erwies sich der Ritz als die Seite eines Vierecks - einer Klappe. Sie trat einen Schritt zurück, konzentrierte sich auf die Holzklappe und befahl ihr, sich zu heben.
Sie klappte auf und gab den Blick auf einen darunterliegenden Gang und eine Leiter an der Mauer frei, die hinunterführte. Zufrieden lächelnd stieg Sonea ein Stockwerk hinab.
Die Anlage der Gänge im ersten Obergeschoss war fast identisch mit der im zweiten Stock. Als Sonea sich alle Seitengänge angesehen hatte, entdeckte sie eine weitere Luke und stieg ins Erdgeschoss hinunter. Auch dort war die Wegführung ähnlich, obwohl es weniger Seitengänge gab. Hier fand sie jedoch Treppen, die noch weiter in die Tiefe hinabführten, unter die Erde.
Ihre Erregung wuchs, als sie feststellte, dass die Grundmauern der Universität durchsetzt waren von Tunneln und leeren Räumen, die auf der Karte des Erdgeschosses durch gestrichelte Linien gekennzeichnet wurden. Außerdem beschränkten sich die Tunnel keineswegs auf den Bereich unterhalb des Gebäudes, sondern führten über die Mauern hinaus unter die Gärten. Als Sonea sich in einem Gang von der Universität entfernte, bemerkte sie, dass der Tunnel leicht abschüssig war. Die Mauern bestanden jetzt aus Ziegelsteinen, und von der Decke hingen Wurzeln. Bei dem Gedanken an die Größe einiger der Bäume über ihr wurde ihr bewusst, dass sie sich tiefer unter der Erde befinden musste, als sie erwartet hatte.