»Da kann ich dir nicht helfen«, erwiderte Akkarin und schüttelte seufzend den Kopf. »Mein Tagebuch und all meine Notizen sind während des letzten Teils meiner Reise zerstört worden. Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte eine Kopie gemacht, und manchmal hätte ich durchaus Lust, dorthin zurückzukehren und alle Informationen noch einmal zusammenzutragen. Aber genau wie du habe ich Pflichten, die mich in Kyralia festhalten. Wenn ich ein alter Mann bin, werde ich mich vielleicht noch einmal davonstehlen.«
Lorlen nickte. »Dann muss ich mich anderswo nach Reiseberichten umschauen.«
Als Takan zurückkam, um das Tablett abzuräumen, begann Akkarin von verschiedenen Büchern zu erzählen, die Lorlen vielleicht interessieren könnten. Lorlen nickte und versuchte, aufmerksam zu erscheinen, während seine Gedanken in Wirklichkeit anderswo waren. Wie er Akkarin kannte, hatte es sehr wahrscheinlich wirklich ein Tagebuch gegeben. Waren darin Hinweise auf schwarze Magie enthalten gewesen? War es tatsächlich zerstört worden, oder log Akkarin? Möglich, dass es sich noch immer irgendwo in der Residenz des Hohen Lords befand. Konnte er sich heimlich ins Haus schleichen und danach suchen?
Aber bereits als Takan ihnen Schalen mit in Wein gedünsteten Piorres servierte, wusste Lorlen, dass eine solche Suche zu riskant gewesen wäre. Wenn Akkarin auch nur den geringsten Hinweis auf einen Eindringling finden sollte, würde ihm das eine Warnung sein, dass jemand um sein Geheimnis wusste. Besser wartete er ab, ob Dannyl etwas herausfand, bevor er sich auf ein so gefährliches Unternehmen einließ.
10
Harte Arbeit zahlt sich aus
Sonea hat die Halbjahresprüfungen bestanden, Lord Kiano«, erklärte Jerrik. »Ich habe sie in diese Klasse versetzt.«
Acht Augenpaare ruhten auf Sonea. Die Novizen saßen im Halbkreis um das Pult des Lehrers. Sie blickte der Reihe nach in jedes Gesicht und versuchte, darin zu lesen. Niemand begegnete ihr mit Hohn oder Feindseligkeit, aber sie sah auch kein ermutigendes Lächeln.
Der Lehrer war ein kleiner, untersetzter Vindo mit schläfrigen Augen. Er nickte dem Rektor und Rothen zu, dann sah er Sonea an. »Hol dir einen Stuhl von hinten, und setz dich zu den anderen.«
Sonea verneigte sich und ging durch den Raum. Sie griff nach einem Stuhl, dann musterte sie noch einmal verstohlen die Novizen. Da sie mit dem Rücken zu ihr saßen, konnte sie ihre Gesichter nicht erkennen und wusste nicht, welchem von ihnen es vielleicht recht wäre, wenn sie sich neben ihn setzte. Als sie wieder nach vorn ging, blickte ein Junge zu ihr hinüber und lächelte schwach. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und war dankbar, als er seinen Stuhl ein wenig beiseite rückte, um ihr Platz zu machen.
Rothen und Jerrik verließen das Klassenzimmer, und Lord Kiano räusperte sich und nahm seinen Unterricht wieder auf.
Die anderen Novizen beugten sich über ihre Hefte und machten sich hastig Notizen. Während der Heiler eine Reihe von Krankheiten und die Medizinen herunterleierte, mit denen sie behandelt wurden, nahm Sonea hastig einen Bogen Papier zur Hand und schrieb alles auf, was sie hörte. Sie hatte keine Ahnung, was wichtig war und was nicht, deshalb hielt sie jedes Wort fest, obwohl sie vermutete, dass es ihr später schwer fallen würde, irgendetwas zu entziffern. Als Lord Kiano endlich innehielt, um ein Diagramm an die Tafel zu zeichnen, fand sie Zeit, einen vorsichtigen Blick auf die anderen Novizen zu werfen.
Es waren ein Mädchen und sechs Jungen. Unter den Jungen waren ein Lan, ein Elyne und ein Vindo; die Übrigen stammten aus Kyralia - obwohl der Junge neben ihr ungewöhnlich klein war und möglicherweise Vindo-Blut in sich hatte. Seine Haut war fleckig, und das Haar hing ihm in schlaffen Strähnen vom Kopf.
Als er ihren Blick spürte, lächelte er unsicher, dann sah er stirnrunzelnd auf das Papier in ihrer Hand. Er drehte seine eigenen Notizen um, so dass sie sie lesen konnte, und schrieb etwas in die Ecke einer Seite.
Hast du alles mitbekommen?
Sonea zuckte die Achseln und schrieb auf ihr eigenes Blatt eine Antwort: Ich hoffe es - er spricht so schnell.
Bevor der Junge Zeit zu einer Erwiderung hatte, begann Lord Kiano, seine Zeichnung zu erklären, und Sonea begriff im gleichen Moment wie der Junge neben ihr, dass sie das Diagramm hätten kopieren sollen. Minutenlang zeichnete Sonea, so schnell sie nur konnte. Aber noch bevor sie mit ihrer Arbeit fertig war, hallte der Mittagsgong durch die Universität.
Lord Kiano trat vor die Klasse hin. »Ich möchte, dass ihr für die nächste Stunde die Namen der Pflanzen mit schleimlösender Wirkung auswendig lernt, die in Kapitel fünf aufgeführt werden. Jetzt dürft ihr gehen.«
Die Novizen erhoben sich und verbeugten sich vor dem Lehrer. Kiano kehrte an die Tafel zurück und machte eine knappe Handbewegung. Zu Soneas Entsetzen war das Diagramm im nächsten Moment bereits verschwunden.
»Wie viel hast du abgezeichnet?«
Sie drehte sich um. Der Junge stand neben ihr und reckte den Hals, um ihre Notizen zu sehen. Sonea drehte die Seite zu ihm um. »Nicht alles, aber es sieht so aus, als hättest du einige Dinge in deiner Zeichnung, die mir entgangen sind. Könnte ich… Wollen wir unsere Zeichnungen vergleichen?«
»Ja. Wenn… wenn es dir nichts ausmacht.«
Die anderen Novizen hatten bereits ihre Sachen eingepackt und verließen den Raum. Einige drehten sich noch einmal nach ihr um, vielleicht weil sie neugierig auf ihre neue Klassenkameradin waren. Sonea sah den Jungen an.
»Gehst du in den Speisesaal?«
Sein Lächeln verblasste ein wenig. »Ja.«
»Dann komme ich mit dir.«
Er nickte. Sie folgten dem Rest der Klasse in den Flur. Die Novizen hatten sich zu Paaren zusammengefunden, blieben aber insgesamt nahe beieinander. Keiner von ihnen machte Anstalten, Sonea zurückzuweisen.
»Wie heißt du?«, fragte sie den Jungen.
»Poril. Familie Vindel, Haus Heril.«
»Ich bin Sonea.« Sie dachte darüber nach, wie sie ihn in ein Gespräch verwickeln könnte. »Seid ihr alle seit dem letzten Winter hier?«
»Oh, alle bis auf mich.« Poril zuckte die Achseln. »Ich habe im vorletzten Sommer angefangen.«
Was bedeutete, dass Poril sich mit dem Lernen schwer tat. Sonea fragte sich, wo das Problem wohl liegen mochte. Möglich, dass er ein starkes magisches Potenzial besaß und dennoch Mühe hatte, den Lektionen zu folgen, andererseits könnte er auch einfach zu schwach sein, um die ihm zugewiesenen Aufgaben zu bewältigen.
Poril begann, von seiner Familie zu erzählen, von seinen Brüdern und Schwestern - sechs insgesamt - und von zahlreichen anderen persönlichen Dingen. Sie ermutigte ihn zum Weitersprechen, denn sie hatte Angst vor den unvermeidlichen Fragen, die sie selbst betrafen.
Als ihre neuen Klassenkameraden den Speisesaal betraten und zu einem der Tische hinübergingen, zögerte Sonea, aber Poril ließ sich ohne viel Aufhebens auf einen der Stühle sinken. Sonea setzte sich neben ihn und war erleichtert, dass die anderen dies ohne Protest akzeptierten.
Die Diener brachten die Speisen herein, und alle begannen zu essen und zu reden. Sonea hörte aufmerksam zu, während die anderen über Menschen sprachen, die sie nicht kannte, und über den Unterricht. Dennoch schienen sie sich ihrer Anwesenheit durchaus bewusst zu sein, und schließlich sah einer der Jungen sie direkt an.
»Du bist aus Regins Klasse, nicht wahr?«, fragte er und deutete mit der Hand auf einen der anderen Tische.
Soneas Magen krampfte sich zusammen. Ihre alte Klasse wurde also »Regins Klasse« genannt. »Ja«, gab sie zu.
Er gestikulierte mit seinem Besteck. »Soweit ich höre, haben sie dir das Leben ziemlich schwer gemacht.«
»Manchmal, ja.«
Der Junge nickte. »Nun, bei uns wird dir das nicht passieren. Wir haben keine Zeit mehr für dumme Spielchen. Du wirst hart arbeiten müssen. Bei uns geht es nicht mehr um Kontrollübungen.«
Die anderen Novizen nickten.
Sonea unterdrückte ein Lachen. Kontrollübungen? Er wusste offensichtlich nicht viel über sie… Oder irrte sie sich, und dies war lediglich eine raffiniertere Art von Schmähung, als sie sie bisher gekannt hatte?