Dannyl nickte. Er stand auf und reckte sich, so gut er konnte. Anscheinend waren die Wohnräume auf all diesen Kaufmannsschiffen schrecklich beengt - was wahrscheinlich an dem kleinen Wuchs ihrer Schöpfer lag. Die meisten Schiffe, die die Meere rund um die Verbündeten Länder befuhren, wurden von Vindo gebaut und gesegelt.
Die Reise nach Capia hatte zwei Wochen gedauert, und bei seiner Ankunft war er von ganzem Herzen dankbar dafür gewesen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Um von Capia aus in die Hauptstadt von Lonmar, Jebem, zu gelangen, brauchte man vier Wochen, und Dannyl war seiner Umgebung jetzt schon überdrüssig. Um das Maß voll zu machen, hatten sie während der letzten Tage kaum Wind gehabt, und der Kapitän hatte ihm mitgeteilt, dass das Schiff sein Ziel infolgedessen womöglich mit Verspätung erreichen würde.
»Ich gehe frische Luft schnappen.«
Tayend brummte eine Antwort. Dannyl überließ den Gelehrten sich selbst und ging durch den Flur in den Gemeinschaftsraum. Im Gegensatz zu der Mannschaft auf seinem ersten Schiff verhielten sich diese Männer des Abends sehr still. Sie saßen zu zweit oder allein unter Deck, und einige kauerten in den Hängematten, die sie als Bett benutzten. Dannyl ging an ihnen vorbei, die Treppe hinauf an Deck.
Stickige Luft schlug ihm entgegen. In Kyralia mochte jetzt Herbst sein, aber je weiter sie nach Norden kamen, umso wärmer wurde das Wetter. Auf Deck nickte Dannyl den Matrosen zu, die Wache hatten. Sie machten sich kaum die Mühe, seinen Gruß zu erwidern.
Er vermisste Jano. Keiner dieser Seeleute hatte auch nur das geringste Interesse, seine Sprachkenntnisse oder Sangeskünste an ihm zu erproben. Er stellte fest, dass ihm dann und wann sogar der kräftige Siyo-Schnaps abging.
Das Schiff wurde zu jeder Zeit von Laternen hell erleuchtet. Nachts hängte ein Seemann von Zeit zu Zeit eine Laterne an einen Stab und beugte sich über die Reling, um den Schiffsrumpf zu begutachten. Einmal hatte Dannyl den Mann gefragt, wonach er Ausschau halte, aber der nichtssagende Blick, der ihm daraufhin zuteil geworden war, ließ darauf schließen, dass der Matrose seine Sprache nicht beherrschte.
Heute Abend war alles still, und Dannyl beugte sich über die Reling am Heck, um das Kräuseln des Wassers im Licht zu beobachten. Des Nachts konnte man sich leicht einbilden, in den Schatten einer Welle eine Kreatur zu erkennen, die durch das Wasser glitt. Während der letzten beiden Wochen hatte er hier und da Fische aus den Wellen springen sehen. Vor einigen Tagen hatte er zu seiner großen Freude in der Bugwelle einige Anyi entdeckt, die zum Teil so groß waren wie ein Mensch. Die stacheligen Geschöpfe hatten ihre von Schnurrbarthaaren bewachsenen Nasen aus dem Wasser gereckt und seltsame, klagende Rufe ausgestoßen.
Nach einer Weile wandte Dannyl sich ab und ging die Reling entlang, blieb dann jedoch abrupt stehen, als er einige kurze, dicke schwarze Seile auf dem Boden vor sich sah. Er runzelte die Stirn und überlegte, wie leicht er darüber hätte stolpern können.
Dann bewegte sich eins der Seile.
Dannyl machte einen Schritt rückwärts und starrte das Ding an. Es war zu glatt für ein Seil, und es schimmerte tiefschwarz im Licht der Laterne. Außerdem stellte sich die Frage, warum irgendjemand ein Seil in derart kurze Stücke schneiden sollte.
Plötzlich kroch eines der Seile auf ihn zu.
»Eyoma!«
Der Warnruf hallte durch die Nacht und wurde vielfach wiederholt. Dannyl sah die Matrosen ungläubig an. »Ich dachte, diese Dinger wären ein Scherz«, murmelte er, während er vor den Geschöpfen zurückwich.
»Eyoma!« Ein Seemann kam auf ihn zugelaufen, einen großen Topf in der einen Hand, ein Paddel in der anderen. »Fischegel. Weg von der Reling!«
Als Dannyl sich umdrehte, entdeckte er, dass hinter ihm weitere Exemplare dieser schwarzen Geschöpfe lauerten. Sie kletterten von allen Seiten auf das Deck. Eines machte einen kleinen Satz auf ihn zu, ein anderes richtete sich halb auf, als schnuppere es, aber Dannyl konnte keine Nase entdecken - nur einen bleichen, runden Mund voller ziemlich scharf wirkender Zähne.
Der Matrose ging an ihm vorbei und schwang den Topf, den er bei sich trug. Eine Flüssigkeit spritzte heraus und bedeckte die Kreaturen und den Boden. Ein vertrauter, nussartiger Geruch drang an Dannyls Nase, und er sah den Seemann fragend an.
»Siyo?«
Den Fischegeln schien diese Behandlung keineswegs zu behagen. Sie begannen, krampfhaft zu zucken, und der Matrose schob sie mit dem Paddel über den Rand des Schiffes.
Inzwischen waren zwei weitere Matrosen zur Unterstützung des ersten herbeigeeilt. Abwechselnd füllten sie ihre Töpfe aus einem offenen, an Deck vertäuten Fass, bespritzten die Egel mit Siyo und kehrten sie von Deck. Die ganze Prozedur wurde so geschickt gehandhabt, dass Dannyl sich langsam entspannte. Als einer der Matrosen versehentlich einem anderen eine Dusche verpasste, musste er sich das Lachen verkneifen.
Aber es kamen immer mehr von den schwarzen Kreaturen, und sie überfluteten das Deck in immer größerer Zahl, bis es so aussah, als nage die Nacht selbst an dem Schiff. Plötzlich stieß einer der Seeleute einen lauten Fluch aus. Ein Egel hatte sich um seinen Knöchel gewunden und schlängelte sich mit erschreckender Geschwindigkeit an dem Bein des Mannes empor. Immer noch fluchend bespritzte er das Tier mit Siyo, und als es zuckend von ihm abgelassen hatte, beförderte er es mit einem Tritt zurück ins Meer.
Dannyls heitere Stimmung war im Nu verflogen, und er beschloss zu helfen. Als einer der Matrosen weitere Egel ins Meer stoßen wollte, hielt Dannyl ihn am Arm fest. Er deutete auf die schwarzen, schleimigen Geschöpfe hinab, konzentrierte sich und ließ seinen Willen wirken. Die Egel flogen von Deck und klatschten ins Meer.
Dannyl wandte sich an den Matrosen. »Wozu der Siyo?«, fragte Dannyl. »Warum werft ihr sie nicht einfach zurück ins Meer?«
»Kein Siyo«, antwortete der Mann und ließ sein Paddel fallen. »Yomi. Rest vom Siyo-Machen. Verbrennt Eyoma, damit sie nicht kommen zurück.«
Der Matrose setzte seine Arbeit fort, und auch Dannyl kämpfte ohne Unterlass gegen die Egel. Plötzlich verlagerte sich das Schiff im Wasser und neigte sich leicht zu einer Seite. Der Matrose fluchte.
»Was ist passiert?«
Der Mann war blass geworden. »Zu viel Eyoma. Wenn großer Schwarm, Schiff werden schwer. Wenn Schwarm auf einer Seite, Schiff kippen.«
Dannyl blickte sich um und sah, dass der Kapitän und mehr als die Hälfte der Mannschaft sich auf der tiefer liegenden Seite des Schiffes versammelt hatten, wo das Deck schwarz von Fischegeln war. Mit einem Mal musste er wieder an Janos Geschichte denken und begriff, in welcher Gefahr sie sich befanden. Wenn das Schiff kenterte und sie ins Wasser fielen, würden sie nicht lange überleben.
»Wie könnt ihr sie aufhalten?«, fragte er, während er weitere Egel zurück ins Meer beförderte.
»Nicht leicht.« Der Matrose holte sich hastig Nachschub aus dem Fass und kehrte dann zu Dannyl zurück. »Nicht leicht, Yomi auf Schiffswand verteilen.«
Das Schiff neigte sich noch weiter zur Seite. Dannyl hob das Paddel auf, das der Mann weggeworfen hatte, und gab es ihm zurück. »Ich werde sehen, ob ich irgendwie helfen kann.«
Der Matrose nickte. Als Dannyl das Deck hinunterging, versperrten ihm etliche Fischegel den Weg, die den Bemühungen der Matrosen entgangen waren. Er sah schwarze Schatten, die sich an Seilen entlangschlängelten und in Ecken oder auf der Reling kauerten. Nachdem er eine magische Barriere um sich errichtet hatte, ging er an den Tieren vorbei, zuckte jedoch jedes Mal zusammen, wenn sie auf ihn zuzuspringen versuchten. Wann immer sie auf die Barriere trafen, hörte er ein leises Zischen, bevor sie wieder zu Boden fielen. Ein wenig beruhigter setzte er seinen Weg fort.
Bevor er den Kapitän erreicht hatte, erklang eine vertraute Stimme aus der Tür zum Gemeinschaftsraum.
»Was ist passiert?«
Als Dannyl Tayend entdeckte, erschrak er. »Bleibt unten.«
Ein Egel ließ sich von einem Seil fallen und landete in der Nähe der Tür. Tayend starrte das Tier mit einer Mischung aus Grauen und Faszination an. »Da ist noch eins.«