»…und um unsere Einschätzung des sachakanischen Krieges weiter voranzutreiben, möchte ich, dass ihr so viel wie möglich über die fünf Höheren Magier herausfindet, die sich der Schlacht während des zweiten Stadiums angeschlossen haben. Sie stammten aus Ländern außerhalb Kyralias, und es war ein gewisser junger Magier namens Genfel, der ihre Unterstützung gewonnen hat. Wählt einen dieser Magier aus, und schreibt mir einen viertausend Worte umfassenden Aufsatz über sein Leben, bevor er in den Krieg verwickelt wurde.«
Sonea griff nach ihrer Feder und begann sich Notizen zu machen. Regin mochte in die höhere Klasse aufgestiegen sein, aber er hatte immer noch viel Arbeit vor sich, bevor er die anderen eingeholt hatte. In den nächsten Wochen würde er zu beschäftigt sein, um sie zu schikanieren, und bis dahin würde sie wissen, ob er den Rest der Klasse beeinflussen konnte. Wenn die anderen Schüler ihn nicht unterstützten, würde es ihm nicht mehr gar so leicht fallen, Sonea zur Zielscheibe seiner bösen Streiche zu machen.
»Jebem, halai!«
Als Dannyl den Ausruf hörte, blickte er erwartungsvoll auf.
»Was ist los?«, fragte Tayend.
Dannyl schnitt eine Grimasse und schob seinen Teller beiseite. Obwohl getrocknete Marin-Paste eine Delikatesse war, schmeckte das altbackene Schiffsbrot nach wie vor grauenhaft.
»Man hat Jebem gesichtet«, erklärte er und erhob sich. Er zog den Kopf ein, um sich nicht an der Decke zu stoßen, und ging zur Tür. Draußen schlug ihm gleißendes Licht entgegen. Die Sonne hing tief über dem Meer und tauchte die Wellen in ihren glitzernden Schein. Die Hitze des Tages mochte vorüber sein, aber die Planken verströmten noch immer Wärme.
Dannyl blickte nach Norden und hielt den Atem an. Dann drehte er sich um und winkte Tayend aus der Kajüte, bevor er den Blick wieder auf die ferne Stadt heftete.
An der Küste entlang zogen sich in endlosen Reihen niedrige, aus grauem Stein gebaute Häuser, zwischen denen Tausende von Obelisken aufragten.
Tayend trat an seine Seite. »Groß, nicht wahr?«, flüsterte der Gelehrte.
Dannyl nickte. Die kleinen Küstendörfer, an denen sie während der letzten Tage vorbeigekommen waren, hatten aus Häusern in dem gleichen schlichten Stil bestanden, durchsetzt mit jeweils einer Hand voll Obelisken. Die Häuser von Jebem waren keineswegs prächtiger, aber die schiere Größe der Stadt war verblüffend. Die Obelisken ragten wie ein Wald von Nadelbäumen aus dem Boden, und die dicht über dem Horizont schwebende Sonne tauchte die ganze Szenerie in ein leuchtend orangefarbenes Licht.
Schweigend betrachteten sie die Landschaft, während das Schiff weiter an der Küste entlangfuhr. Dann tauchte eine Reihe von zerklüfteten Felsen auf, die der Stadt vorgelagert waren. Das Schiff segelte in den Kanal zwischen diesen Felsen und der Küste. Als sie auf die Höhe des Stadtteils kamen, in dem die Obelisken am engsten beieinander standen, ließ der Kapitän die Segelfläche kürzen und drehte das Schiff in verminderter Fahrt in einen schmalen Kanal, der direkt auf die Stadt zuführte. An beiden Ufern standen dunkelhäutige Männer bereit. Sie warfen den Matrosen Seile zu, die um niedrige Poller auf dem Schiff geschlungen wurden. Die anderen Enden waren bereits an Gorin-Gespannen befestigt. Die großen Tiere machten sich daran, das Schiff den Kanal hinunterzuziehen.
Während der nächsten Stunde manövrierten die Hafenarbeiter das Schiff durch den Kanal, bis es eine künstliche Bucht erreichte. Mehrere andere Schiffe, von denen einige doppelt so groß waren wie ihr eigenes, schaukelten dort bereits sanft auf den Wellen. Als das Schiff an Pfählen entlang des Kais vertäut wurde, kehrten Dannyl und Tayend in ihre Kajüten zurück, um ihre Sachen zu holen.
Nach einer kurzen, förmlichen Verabschiedung von ihrem Kapitän gingen sie die Laufplanke hinunter an Land. Ihre Koffer wurden vier Männern übergeben. Dann trat ein fünfter vor und verneigte sich.
»Seid mir gegrüßt, Botschafter Dannyl, und Ihr ebenfalls, junger Tremmelin. Ich bin Loryk, euer Dolmetscher. Ich werde euch zum Gildehaus bringen. Bitte, folgt mir.«
Mit einer schnellen, herrischen Geste bedeutete er den Trägern, sich an die Arbeit zu machen, dann wandte er sich der Stadt zu. Dannyl und Tayend folgten ihm über mehrere Kaimauern und auf eine breite Straße.
Staub lag in der Luft und dämpfte die Farben um sie herum. An die Stelle der Meeresbrise waren drückende Hitze und eine Mischung aus Parfüm und Gewürzen getreten. In den Straßen wimmelte es von Menschen, die allesamt die schlichte lonmarische Kleidung trugen. Stimmen umwehten sie, aber sie konnten die Worte nicht verstehen. Die Männer, an denen sie vorbeikamen, starrten Dannyl und Tayend unverhohlen an, doch ihr Blick drückte weder Freundlichkeit noch Missbilligung aus. Gelegentlich musterte einer von ihnen Tayend mit schmalen Augen, da der junge Gelehrte sein elegantestes Hofgewand angelegt hatte und in den staubigen Straßen äußerst deplatziert wirkte.
Tayend war ungewöhnlich still. Dannyl erspürte die mittlerweile vertraut gewordenen Zeichen von Unbehagen: Eine kleine Falte war auf der Stirn des anderen Mannes erschienen, und er hielt sich stets einen halben Schritt hinter Dannyl. Als der Gelehrte ihn ansah, lächelte Dannyl beruhigend.
»Keine Sorge. Anfangs ist es immer ein unangenehmes Gefühl, in einer fremden Stadt zu sein.«
Tayends Stirnrunzeln verschwand, und er schloss zu Dannyl auf, während sie dem Übersetzer durch eine schmale Gasse folgten. Als sie auf einen großen Platz hinaustraten, verlangsamte Dannyl seine Schritte und sah sich entsetzt um.
Überall auf dem Platz erhoben sich hölzerne Bühnen. Auf der ihnen am nächsten gelegenen stand eine Frau mit gefesselten Händen, und neben ihr ragte ein weiß gekleideter Mann mit rasiertem Kopf auf, der über und über tätowiert war und in der linken Hand eine Peitsche hielt. Ein anderer Mann ging vor der Menge, die sich um diese Bühne herum versammelt hatte, auf und ab und verlas etwas von einem Blatt Papier.
Dannyl schloss zu dem Übersetzer auf.
»Was sagt er?«
Loryk lauschte. »Die Frau hat ihren Mann und ihre Familie beschämt, indem sie einen anderen Mann in ihr Schlafzimmer eingeladen hat.« Er machte eine ausladende Geste. »Dies ist der Richtplatz.«
Rufe wurden laut, und der Rest der Proklamation ging in dem Lärm unter. Als Dannyl und seine Begleiter sich langsam von der Bühne entfernten, bemerkte er ganz in der Nähe einen jungen Mann, der die Frau beobachtete. Seine Augen glänzten feucht, aber sein Gesicht war wie erstarrt.
Ehemann oder Geliebter?, fragte sich Dannyl.
In der Mitte des Platzes herrschte weniger Gedränge. Die Träger bahnten sich zwischen zwei Bühnen hindurch einen Weg. Die weiß gekleideten Männer, die auf den Bühnen standen, hatten Schwerter in Händen. Dannyl hielt den Blick fest auf den Nacken des Übersetzers geheftet, aber als eine Stimme den Lärm auf dem Platz übertönte, blieb Loryk stehen.
»Ah… Er sagt: Dieser Mann hat seine Familie in Schande gestürzt mit seinen unnatürlichen… wie ist Euer Wort dafür? Begierden? Er hat die höchste Strafe verdient, weil er die Seelen und Körper von Männern verdorben hat. So wie die Sonne untergeht und die Dunkelheit die Welt von Sünde reinigt, kann nur sein Tod die Seelen derer, die er besudelt hat, säubern.«
Trotz der Hitze überlief Dannyl ein kalter Schauer. Der Verurteilte kauerte mit resignierter Miene in sich zusammengesunken an einem Pfahl. Die Menge begann zu schreien; der Hass verzerrte ihre Gesichter. Dannyl hatte Mühe, sich sein Grauen und seine Wut nicht anmerken zu lassen. Der Mann wurde für ein Verbrechen hingerichtet werden, das ihm in Kyralia nur Entehrung und Schande eingetragen hätte und das in Elyne - Tayend zufolge - überhaupt kein Verbrechen war.
Dannyl musste unweigerlich an den Skandal und das Gerücht denken, die ihm als Novize solche Schwierigkeiten eingetragen hatten. Man hatte ihn des gleichen »Verbrechens« bezichtigt wie diesen Mann. Beweise hatten keine Rolle gespielt; sobald das Gerücht in Umlauf gekommen war, hatten Novizen wie Lehrer ihn gleichermaßen wie einen Aussätzigen behandelt. Als die Menge hinter ihm von neuem zu schreien begann, schauderte er. Wenn ich das Pech gehabt hätte, in Lonmar geboren zu werden, hätte mir vielleicht das Gleiche passieren können.