»Das ist es.« Lorlen nickte. »Ich wollte nur noch einige Briefe lesen und dann zu Bett gehen.«
»Ist etwas Interessantes dabei? Wie geht es Lord Dannyl?«
Lorlens Herz setzte einen Schlag aus. Hatte Akkarin Dannyls Handschrift erkannt? Stirnrunzelnd versuchte er, sich daran zu erinnern, was auf der obersten Seite gestanden hatte.
»Er ist auf dem Weg nach Lonmar, um die Streitigkeiten des Rates wegen des Großclans von Koyhmar beizulegen. Ich hatte Errend gebeten, sich darum zu kümmern, da er jetzt einen zweiten Botschafter hat, der ihn in Elyne vertreten kann, aber Errend hat es vorgezogen, stattdessen Dannyl nach Lonmar zu schicken.«
Akkarin lächelte. »Lonmar. Ein Land, das entweder Appetit auf weitere Reisen macht oder einem die Lust daran endgültig vergällt.«
Lorlen beugte sich vor. »Wie ist es bei dir gewesen?«
»Hm.« Akkarin dachte gründlich über die Frage nach. »Das Land hat in mir den Hunger geweckt, mehr von der Welt zu sehen, aber es hat mich auch als Reisenden abgehärtet. Die Lonmar mögen das zivilisierteste Volk der Verbündeten Länder sein, aber sie haben auch viele grausame und unerbittliche Züge. Man lernt, ihr Gefühl für Gerechtigkeit zu tolerieren, aber gleichzeitig werden die eigenen Auffassungen und Ideale durch die Begegnung mit diesem Land bekräftigt. Das Gleiche könnte man über die Frivolität der Elyner sagen oder über die Besessenheit, mit der die Vindo dem Handel nachgehen. Es gibt mehr im Leben als Mode und Geld.« Akkarin hielt geistesabwesend inne, dann richtete er sich ein wenig höher auf. »Und man entdeckt, dass nicht jeder Elyner frivol ist, nicht jeder Vindo habgierig und nicht jeder Lonmar unbeugsam. Die meisten von ihnen sind gütig und nachgiebig und ziehen es vor, Streitigkeiten privat beizulegen. So viel habe ich immerhin über diese Menschen gelernt, und obwohl sich die ganze Reise im Hinblick auf meine Forschungen als Zeitverschwendung erwiesen hat, kommt mir die Erfahrung bei meiner Arbeit hier sehr zugute.«
Lorlen schloss die Augen und massierte sich die Lider. Zeitverschwendung? Verschwendete Dannyl ebenfalls nur seine Zeit?
»Du bist müde, mein Freund«, sagte Akkarin in weicherem Tonfall. »Ich halte dich mit meinen Geschichten von deinem Bett fern.«
Lorlen blinzelte und sah zu dem Hohen Lord auf. »Nein - achte nicht auf mich. Bitte, sprich weiter.«
»Nein.« Akkarin erhob sich, und seine schwarzen Roben raschelten. »Ich habe dich mit meinem Gerede müde gemacht. Wir unterhalten uns ein andermal.«
Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung folgte Lorlen Akkarin zur Tür. Auf dem Flur drehte Akkarin sich noch einmal nach Lorlen um und lächelte schief.
»Gute Nacht, Lorlen. Gönn dir ein wenig Ruhe, ja? Du wirkst sehr erschöpft.«
»Ja. Gute Nacht, Akkarin.«
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, stieß Lorlen einen Seufzer aus. Er hatte gerade etwas Nützliches erfahren - oder vielleicht doch nicht? Akkarin mochte behaupten, dass sein Aufenthalt in Lonmar vergebens gewesen sei, aber womöglich wollte er damit nur den Umstand verbergen, dass er tatsächlich etwas entdeckt hatte. Es war seltsam, dass er plötzlich von der Reise erzählte, nachdem er das Thema in der Vergangenheit stets gemieden hatte.
Lorlen zuckte zusammen, als ein kalter Luftzug über seinen Hals strich. Solchermaßen abgelenkt von seinen Gedanken, gähnte er und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um die Schachtel mit seiner Privatkorrespondenz an ihren Platz im Schrank zurückzustellen. Als er das Büro verließ und sich auf den Weg zu seinen Räumen machte, fühlte er sich bereits ein wenig besser.
Er musste Geduld haben. Dannyl würde bald genug herausfinden, ob seine Reise nach Lonmar Zeitverschwendung gewesen war oder nicht.
12
Anders als gedacht
Wie hatte er das gemacht?
Sonea ging langsam den Flur hinunter. Auf den Armen trug sie den Karton, in dem sie ihre Feder, das Tintenfass und ihre Mappe mit Notizen und frischem Papier aufbewahrte. Die Mappe war leer.
Einmal mehr durchforstete sie ihr Gedächtnis. Wann hatte sie Regin eine Gelegenheit gegeben, an ihre Sachen heranzukommen? Sie war immer vorsichtig gewesen und hatte ihre Notizen niemals aus den Augen gelassen.
Aber im Klassenzimmer wurden die Novizen während Lady Kinlas Unterrichtsstunden häufig nach vorn gerufen, um sich irgendetwas genau demonstrieren zu lassen. Es war möglich, dass Regin bei einer solchen Gelegenheit auf dem Weg an ihrem Tisch vorbei ihre Notizen aus der Mappe genommen hatte. Sie hatte geglaubt, dass die verwöhnten Kinder aus den Häusern nicht zu solcher Fingerfertigkeit fähig wären. Offensichtlich hatte sie sich geirrt.
Sie hatte ihr Zimmer gründlich durchsucht und war spätabends sogar noch einmal in die Universität geschlüpft, um sich im Klassenzimmer umzusehen. Doch noch während sie mit ihrer Suche beschäftigt gewesen war, hatte sie gewusst, dass sie die Notizen nicht finden würde - zumindest nicht unversehrt oder rechtzeitig vor den morgigen Prüfungen.
Als sie in das Klassenzimmer kam, wurde ihr Verdacht von Regins selbstgefälliger Miene sofort bestätigt. Da sie nicht die Absicht hatte, sich etwas anmerken zu lassen, verbeugte sie sich vor Lady Kinla und nahm wie gewöhnlich auf ihrem Stuhl neben Poril Platz.
Lady Kinla war eine hoch gewachsene Heilerin in mittleren Jahren. Heilerinnen trugen das Haar zu einem Knoten im Nacken gebunden, und diese Mode verlieh Lady Kinlas schmalem Gesicht einen Ausdruck von dauerhafter Ernsthaftigkeit. Als Sonea sich hinsetzte, räusperte sich die Heilerin und sah alle Novizen der Reihe nach aufmerksam an.
»Heute werde ich euch in den Lektionen prüfen, die wir während der letzten drei Monate durchgenommen haben. Ihr dürft eure Notizen zu Rate ziehen.« Sie nahm einen Stoß Papiere zur Hand und ließ den Blick über die Seiten wandern. »Zuerst Bennon…«
Als die Prüfung begann, setzte Soneas Herz einen Schlag aus. Lady Kinla ging im Klassenzimmer auf und ab und fragte mal diesen, mal jenen. Als Sonea ihren Namen hörte, setzte ihr Herz erneut einen Schlag aus, aber zu ihrer Erleichterung war die Frage einfach, und sie konnte sie aus dem Gedächtnis beantworten.
Die Fragen wurden jedoch langsam schwieriger. Als ein anderer Novize zögerte und seine Notizen zu Rate zog, bevor er antwortete, wurde Sonea nervös. Neben sich spürte sie einen Luftzug, als Kinla an ihrem Stuhl vorbeiging.
Dann blieb die Heilerin stehen und drehte sich zu Sonea um. Sie machte einige Schritte nach vorn, bis sie über Soneas Pult aufragte.
»Sonea.« Sie legte eine Fingerspitze auf den Tisch. »Wo sind deine Notizen?«
Sonea schluckte. Eine Sekunde überlegte sie, ob sie so tun solle, als hätte sie sie vergessen. Aber wenn sie sich eine derartige Geschichte ausdachte, würde das Regin erst recht Befriedigung verschaffen, und plötzlich fiel ihr noch eine andere Erklärung ein…
»Ihr habt gesagt, diese Unterrichtsstunde solle einer Prüfung dienen, Mylady«, erwiderte sie. »Ich habe nicht gedacht, dass ich meine Notizen benötigen würde.«
Lady Kinla hob die Augenbrauen und musterte Sonea nachdenklich. Irgendwo hinter ihr erklang ein unterdrücktes, hämisches Kichern.
»Ich verstehe.« Der Tonfall der Lehrerin verhieß nichts Gutes. »Nenne mir zwanzig Knochen des Körpers, angefangen vom kleinsten.«
Sonea fluchte lautlos. Ihre Antwort hatte die Heilerin verärgert, die offensichtlich davon ausging, dass Sonea unmöglich so viele Dinge aus dem Gedächtnis würde aufsagen können.
Aber sie musste es versuchen. Langsam und schließlich mit wachsendem Selbstvertrauen zog Sonea die Namen aus ihrer Erinnerung und zählte sie, während sie sprach, an den Fingern ab. Als sie fertig war, sah Lady Kinla sie schweigend an, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.
»Deine Antworten sind richtig«, sagte die Heilerin widerwillig.
Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung beobachtete Sonea, dass die Lehrerin sich abwandte und weiter zwischen den Pulten der Novizen umherging. Als Sonea sich umsah, bemerkte sie, dass Regin sie mit schmalen Augen anstarrte.