»Oder aus tausend Schwertern.«
»Oder den Masten von Schiffen, die darauf warten, Seelen fortzubringen.«
»Oder einem gewaltigen Nagelbett.«
»Ihr seid heute ja in guter Stimmung«, bemerkte Dannyl trocken.
Tayend lächelte schief. »Das kann man wohl sagen, wie?«
Als sie sich den Toren des Tempels näherten, kam ihnen ein Mann in einer schlichten weißen Robe entgegen. Sein Haar war weiß und bildete einen deutlichen Kontrast zu dem tiefen Schwarz seiner Haut. Nach einer kaum mehr als angedeuteten Verbeugung verschränkte er die Hände und öffnete sie dann wieder, eine rituelle Geste der Anhänger des Mahga.
»Willkommen, Botschafter Dannyl. Ich bin der Hohe Priester Kassyk.«
»Ich danke Euch, dass Ihr uns diesen Besuch gestattet habt«, erwiderte Dannyl. »Dies ist mein Assistent und Freund, Tayend von Tremmelin, Gelehrter der Großen Bibliothek von Capia.«
Der Hohe Priester wiederholte seine Geste. »Willkommen, Tayend von Tremmelin. Wollt ihr euch vielleicht den Prächtigen Tempel ansehen, bevor ihr euch den Schriftrollen zuwendet?«
»Es wäre uns eine Ehre«, antwortete Dannyl.
»Dann folgt mir.«
Der Hohe Priester machte auf dem Absatz kehrt und führte sie in das kühle Tempelgebäude. Sie gingen durch einen langen Flur, und der Priester erklärte ihnen unterwegs die historische oder religiöse Bedeutung einzelner Gegenstände. Der Gang, dem sie folgten, wurde von vielen weiteren gekreuzt, und durch kleine, schmale Fenster, die direkt unterhalb des gewölbten Daches eingelassen waren, fiel Licht. Gelegentlich kamen sie durch winzige Innenhöfe, in denen überraschend üppige Pflanzen gediehen. Ab und zu blieben sie an in die Wand eingebauten Springbrunnen stehen, um eine Hand voll Wasser zu trinken.
Schließlich erreichten sie die kleinen Räume, in denen die Priester lebten, studierten oder meditierten. Der Hohe Priester führte sie durch große, höhlenartige Hallen, in denen täglich Gebete und Rituale abgehalten wurden. Zu guter Letzt kamen sie in einen Komplex kleiner Räume, in denen Schriftrollen und Bücher ausgestellt waren.
»Welche Texte interessieren euch besonders?«, fragte Kassyk.
»Ich würde gern die dorgonischen Schriftrollen sehen.«
Der Priester musterte Dannyl schweigend, bevor er antwortete: »Wir gestatten Ungläubigen nicht, diese Texte zu lesen.«
»Oh.« Dannyl runzelte enttäuscht die Stirn. »Das sind aber schlechte Nachrichten. Man hat mich glauben gemacht, diese Schriftrollen seien frei zugänglich, und ich habe eine weite Reise auf mich genommen, um sie zu sehen.«
»Das ist in der Tat bedauerlich.« Der Hohe Priester betrachtete ihn mit aufrichtigem Mitgefühl.
»Verzeiht mir, wenn ich mich irre, aber Ihr habt schon in der Vergangenheit einmal einem Ungläubigen gestattet, sie zu lesen, nicht wahr?«
Kassyk blinzelte überrascht, dann nickte er langsam. »Als Euer Hoher Lord vor zehn Jahren hier war, hat er mich dazu überredet, ihm das Studium der Schriftrollen zu gestatten. Er hat mir versichert, dass mich nach ihm niemand mehr um diese Information bitten würde.«
Dannyl tauschte einen Blick mit Tayend. »Akkarin war damals noch nicht Hoher Lord, aber selbst wenn er es gewesen wäre, wie hätte er Euch eine solche Garantie geben können?«
»Er hat einen Schwur abgelegt, das Gelesene niemals weiterzugeben.« Der Priester zog die Brauen zusammen. »Ebenso hat er versprochen, die Schriftrollen niemandem gegenüber zu erwähnen. Er hat gesagt, diese Informationen seien für die Gilde nicht von Interesse, und auch ihm selbst gehe es nicht um religiöse Lehren, sondern einzig um die Erforschung alter Magie. Sucht ihr nach denselben Wahrheiten?«
»Das kann ich nicht sagen, da ich nicht genau weiß, wonach Akkarin gesucht hat. Diese Schriftrollen könnten für meine Forschungen von Bedeutung sein, obwohl sie für den Hohen Lord keinen Nutzen hatten.« Dannyl sah dem Priester fest in die Augen. »Wenn ich den gleichen Schwur ablege, werdet Ihr mir dann gestatten, die Texte zu lesen?«
Nach einer langen Pause nickte der Priester schließlich. »Also gut. Aber Euer Freund muss hier bleiben.«
Tayend ließ die Schultern sinken, aber als er auf einem Sessel in der Nähe Platz nahm, stieß er dennoch einen Seufzer der Erleichterung aus. Dannyl überließ den Gelehrten sich selbst und folgte dem Priester durch die Räume mit Schriftrollen. Nachdem sie ein wahres Labyrinth kleiner Bibliotheken durchschritten hatten, kamen sie in einen kleinen, quadratischen Raum.
Sämtliche Regale wurden von Quadraten makellos klaren Glases bedeckt. Als Dannyl näher trat, sah er, dass unter dem Glas Bruchstücke von Papieren ausgestellt waren.
»Die Dorgon-Schriftrollen.« Der Hohe Priester trat auf die erste der Rollen zu. »Ich werde Euch den Text übersetzen, wenn Ihr mir bei der Ehre Eurer Familie und der Gilde schwört, ihren Inhalt niemals irgendjemandem zu offenbaren.«
Dannyl straffte sich und wandte sich zu Kassyk um. »Ich schwöre bei der Ehre meiner Familie und meines Hauses und bei der Ehre der Magiergilde von Kyralia, dass ich niemandem weitergeben werde, was ich aus diesen Schriftrollen erfahre, es sei denn, mein Schweigen würde den Verbündeten Ländern schwersten Schaden zufügen.« Er hielt inne. »Ist das akzeptabel? Einen größeren Schwur kann ich nicht leisten.«
Die Falten um den Mund des alten Mannes hatten sich vor Erheiterung vertieft, aber seine Antwort klang dennoch ernst. »Das ist akzeptabel.«
Erleichtert folgte Dannyl dem Hohen Priester zu der ersten der Schriftrollen und lauschte, während der Mann zu lesen begann. Langsam machten sie die Runde durch den Raum, und Kassyk erläuterte ihm Diagramme und Bilder im Text. Als die letzte Schriftrolle verlesen worden war, setzte sich Dannyl auf eine Bank in der Mitte des Raumes.
»Wer hätte das gedacht?«, sagte er laut.
»Zu jener Zeit niemand«, antwortete Kassyk.
»Jetzt verstehe ich, warum Ihr nicht wollt, dass sie gelesen werden.«
Kassyk kicherte und ließ sich neben Dannyl nieder. »Für jene, die der Priesterschaft beitreten, ist es kein Geheimnis, dass Dorgon ein Betrüger war, der seine geringen Kräfte nutzte, um Tausende von Menschen von seiner Heiligkeit zu überzeugen. Wirklich bedeutsam waren die Dinge, die später geschahen. Dorgon begriff langsam, dass sich hinter seinen Tricks Wunder verbargen und dass die Wunder das Wirken der Großen Macht waren. Aber das ahnt niemand, wenn er nur diese Schriftrollen liest.«
»Warum bewahrt Ihr sie dann auf?«
»Sie sind alles, was uns von Dorgon geblieben ist. Seine späteren Werke sind kopiert worden, aber dies ist das einzige Original, das sich erhalten hat. Diese Schriftrollen wurden von einer Familie bewahrt, die sich jahrhundertelang der Mahga-Religion widersetzt hat.«
Dannyl sah sich in dem Raum um und nickte. »Hier findet sich tatsächlich nichts Schädliches - und nichts Nützliches. Ich bin umsonst nach Lonmar gekommen.«
»Das Gleiche sagte auch Euer Hoher Lord, bevor er Hoher Lord wurde.« Kassyk lächelte. »Ich erinnere mich noch gut an seinen Besuch. Ihr wart sehr höflich, Botschafter Dannyl. Der junge Akkarin hat laut gelacht, als er die Dinge hörte, die auch Ihr heute gehört habt. Vielleicht sind die Wahrheiten, nach denen ihr beide sucht, einander ähnlicher, als Ihr anfangs dachtet.«
Dannyl nickte. »Vielleicht.« Er sah den Hohen Priester an. »Ich danke Euch, dass Ihr mir diese Texte zugänglich gemacht habt, Hoher Priester. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich Euch nicht glaubte, als Ihr sagtet, sie enthielten keinerlei Informationen über alte Magie.«
Der Mann erhob sich. »Ich wusste, dass Eure Neugier niemals enden würde, wenn ich Euch Eure Bitte abgeschlagen hätte. Jetzt wisst Ihr Bescheid, und ich vertraue darauf, dass Ihr Euer Wort halten werdet. Und nun bringe ich Euch zu Eurem Freund zurück.«
»Alle Bücher über den Sachakanischen Krieg sind ausgeliehen?«, fragte Sonea.
Lord Jullen blickte auf. »Das habe ich gesagt.«
Sonea wandte sich ab und murmelte einen Fluch, der ihr einen strengen Tadel von Rothen eingetragen hätte.