Nachdem die Klasse eine Aufgabe bekommen hatte, bei der sie Bücher aus der Bibliothek benötigten, hatte ein kunstvoller Tanz begonnen: Alle Schüler wetteiferten miteinander auf die höflichste Weise um die besten Bücher. Da Sonea sich diesem Treiben nicht anschließen wollte, hatte sie es in Rothens Bibliothek versucht, dort aber nichts über das Thema gefunden. Als sie in die Novizenbibliothek zurückgekehrt war, war dort nichts Nützliches mehr auszuleihen gewesen. Damit war ihr nur die Magierbibliothek geblieben, die offensichtlich ebenfalls bereits geplündert worden war.
»Sie sind alle entliehen«, erklärte sie Rothen, als sie zu ihm aufschloss.
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Alle? Wie kann das sein? Novizen dürfen sich grundsätzlich nur eine begrenzte Anzahl an Büchern ausleihen.«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hat er Gennyl überredet, sich ebenfalls einige Bücher auszuleihen.«
»Du kannst nicht wissen, ob es Regins Werk war, Sonea.«
Sie schnaubte leise.
»Warum lässt du dir keine Abschrift anfertigen?«
»Das wäre ziemlich teuer, nicht wahr?«
»Dafür hast du dein Taschengeld, vergiss das nicht.«
Sonea wandte den Blick ab. »Wie lange würde so etwas dauern?«
»Das kommt auf das Buch an. Einige Tage für gedruckte Bücher, einige Wochen für Handschriften. Dein Lehrer wird wissen, welche Bände die besten sind.« Er kicherte, dann senkte er die Stimme. »Verrat ihm nicht, warum du darum bittest, dann wird er sehr beeindruckt sein von deinem scheinbaren Interesse an dem Thema.«
Sie griff nach ihrer Mappe mit Notizen. »Ich gehe jetzt wohl besser. Wir sehen uns morgen.«
Er nickte. »Möchtest du, dass ich dich begleite?«
Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. »Lord Ahrind hat immer ein Auge auf alle Novizen.«
»Dann gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Als sie die Magierbibliothek verließ, sah Lord Jullen ihr argwöhnisch nach. Draußen war es kalt, und sie beeilte sich, das Novizenquartier zu erreichen. Hinter der Tür hatte sich eine kleine Gruppe von Novizen versammelt. Als sie sie sahen, trat ein breites Grinsen in ihre Gesichter. Im nächsten Moment entdeckte sie die verschmierte Tintenschrift auf ihrer Tür. Sie biss die Zähne zusammen und machte einen Schritt nach vorn.
Plötzlich tauchte Regin vor ihr auf. Sie wappnete sich innerlich gegen seinen Spott, aber dann trat er genauso schnell zurück, wie er erschienen war.
»Hai! Sonea!«
Sie erkannte die Stimme sofort und fuhr herum. Zwei Männer hatten den Flur betreten, einer ziemlich groß, der andere klein. Lord Ahrinds Augen wurden schmal, als er die Schrift an ihrer Tür entdeckte. Er ging an ihr vorbei, und sie hörte, wie die Novizen in lautstarken Protest ausbrachen.
»Es ist mir egal, wer es getan hat. Du wirst es sauber machen. Sofort!«
Aber Sonea ignorierte den Lärm um sie herum. Ein vertrautes, freundliches Gesicht hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
»Cery!«, flüsterte sie.
Cerys Lächeln verblasste, während er die Szene hinter ihr in sich aufnahm. »Sie machen dir das Leben ziemlich schwer.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Sie zuckte die Achseln. »Sie sind nur Kinder. Ich…«
»Sonea.« Lord Ahrind war wieder neben sie getreten. »Du hast einen Besucher, wie du zweifellos selbst bemerkt haben wirst. Du darfst im Flur oder draußen mit ihm reden. Nicht in deinem Zimmer.«
Sonea nickte. »Ja, Mylord.«
Solchermaßen zufrieden gestellt, stolzierte Ahrind zu seiner Tür und verschwand. Sonea bemerkte, dass alle Novizen bis auf einen sich zurückgezogen hatten. Sie beobachtete, wie der Junge die Tinte von ihrer Tür abwischte. Sein mürrischer Blick verriet ihr, dass er lediglich einer der Zuschauer gewesen war, nicht derjenige, der die Nachricht geschrieben hatte.
Obwohl der Flur jetzt verlassen war, konnte sich Sonea nur allzu gut die Ohren vorstellen, die sich an Türen drückten, um ihr Gespräch mit Cery zu belauschen.
»Lass uns nach draußen gehen. Warte hier. Ich will nur schnell etwas holen.«
Sie schlüpfte in ihr Zimmer und griff nach einem kleinen Päckchen, bevor sie in den Korridor zurückkehrte und mit Cery in den Garten ging. Nachdem sie eine geschützte Bank gefunden hatten, wob sie eine Wärmebarriere um sie beide herum. Cery zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Du hast einige nützliche Tricks gelernt.«
»Ein paar, ja«, pflichtete sie ihm bei.
Cery sah sich argwöhnisch um. »Erinnerst du dich an den Tag, als wir das letzte Mal in diesem Garten waren?«, fragte er. »Das ist jetzt fast ein Jahr her.«
Sie grinste. »Wie könnte ich das vergessen?«
Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie daran dachte, was sie in dem Gewölbe unter der Residenz des Hohen Lords beobachtet hatte. Damals hatte sie nur den Wunsch gehabt fortzukommen, deshalb hatte sie Cery nichts von dem Vorfall berichtet. Später hatte sie ihm dann lediglich erklärt, sie habe einem Magier bei der Arbeit zugesehen, aber damals hatte sie noch nicht gewusst, dass es sich um verbotene schwarze Magie handelte. Und inzwischen hatte sie dem Administrator das Versprechen gegeben, die Wahrheit vor allen außer Rothen verborgen zu halten.
»Dieser Junge ist der Anführer, nicht wahr? Der, der sich versteckt hat, als er den Magier gesehen hat - Lord Ahrind?«
Sie nickte.
»Wie heißt dieser Junge?«
»Regin.«
»Hat er dir oft zugesetzt?«
Sie seufzte. »Er tut es ständig.« Als sie ihm von den Streichen und den Spottworten erzählte, empfand sie gleichzeitig Verlegenheit und Erleichterung. Es tat gut, mit ihrem alten Freund zu reden und den Zorn in seinem Gesicht zu sehen.
Cery stieß einen anschaulichen Fluch aus. »Dieser Junge braucht eine ordentliche Lektion, wenn du mich fragst. Soll ich sie ihm erteilen?«
Sonea kicherte. »Du würdest niemals auch nur in seine Nähe kommen.«
»Tatsächlich?« Er lächelte verschlagen. »Magier dürfen andere Menschen nicht verletzen, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Also darf er seine Kräfte in einem Kampf mit einem Nichtmagier nicht einsetzen, oder?«
»Er wird nicht mit dir kämpfen, Cery. Es wäre unter seiner Würde, sich mit einem Hüttenjungen zu schlagen.«
Cery schnaubte. »Dann ist er also ein Feigling?«
»Nein.«
»Aber er ist sich nicht zu schade, sich mit dir anzulegen. Du kommst auch aus den Hüttenvierteln.«
»Er kämpft nicht gegen mich. Er sorgt nur dafür, dass niemand vergisst, wo ich herkomme.«
Cery dachte eine Weile über ihre Worte nach, dann zuckte er die Achseln. »Also brauchen wir ihn nur zu töten.«
Erstaunt über die Absurdität seines Vorschlags, lachte sie. »Wie?«
Seine Augen blitzten. »Wir könnten ihn in einen Tunnel locken und den Tunnel dann zum Einsturz bringen.«
»Ist das alles? Er müsste nur einen Schild um sich herum hochziehen und die Trümmer wegschieben.«
»Nicht ohne seine Magie aufzubrauchen. Wie wäre es, wenn wir ihn mit sehr vielen Trümmern zuschütten würden? Mit einem ganzen Haus.«
»Es müsste erheblich mehr sein als das.«
Cery schürzte die Lippen. »Wir könnten ihn in einen Abwasserbottich werfen und ihn darin einschließen.«
»Er würde sich den Weg freisprengen.«
»Dann locken wir ihn mit einer List an Bord eines Schiffes und versenken das Schiff weit draußen im Meer.«
»Er würde eine Luftblase um sich herum schaffen und an die Oberfläche treiben.«
»Ah, aber das würde er nicht bis in alle Ewigkeit durchhalten. Er würde müde werden und ertrinken.«
»Wir können einen elementaren Schild über einen sehr langen Zeitraum aufrechterhalten«, erklärte sie ihm. »Er müsste sich nur mit Hilfe von Gedankenrede mit Lord Garrel in Verbindung setzen, und die Gilde würde ein Boot zu seiner Rettung hinausschicken.«
»Wenn wir das Schiff weit weg von allen Magiern versenken würden, könnte er verdursten.«
»Das könnte er«, räumte sie ein, »aber ich bezweifle es. Die Magie macht uns sehr stark. Wir überleben länger als gewöhnliche Menschen - und außerdem haben wir gelernt, wie man das Salz aus dem Wasser herauszieht. Er würde keinen Durst leiden, und er könnte Fische fangen und sie sich braten.«