Obwohl ihre Klassenkameraden sich nicht an den Schikanen beteiligten, taten sie auch nichts, um ihr zu helfen. Und Poril war kein Hindernis für ihre Peiniger. Wann immer Regin ihr zusetzte, stand Poril nur bleich und zitternd daneben.
Manchmal gelang es ihr, den anderen ein Schnippchen zu schlagen, indem sie sich erbot, die Bücher eines Lehrers zu tragen, oder eine Frage stellte, deren Beantwortung den größten Teil des Weges aus der Universität heraus in Anspruch nahm. Sobald sich irgendeiner der Magier in den Fluren aufhielt, gelang es Sonea meistens zu entkommen. Manchmal holte Rothen sie nach dem Unterricht ab, aber in diesen Fällen musste sie am nächsten Tag stets den Hohn der anderen ertragen.
Im Novizenquartier ließ Regins Bande sie in Ruhe. Einmal waren sie in ihr Zimmer eingebrochen und hatten ihre Sachen durcheinander gebracht. Eine schnelle, mit Hilfe von Gedankenrede übermittelte Frage an Lord Ahrind, wie sie mit ungebetenen Gästen verfahren solle, hatte das Problem im Nu gelöst. Seither hatten sie nicht noch einmal versucht, in ihr Zimmer einzudringen - jedenfalls nicht, soweit sie es beurteilen konnte.
Sie hatte sich einen stabilen Handkoffer mit einem Tragegriff gekauft, um ihre Sachen darin zu verstauen, da sie es müde war, dass man ihr die Bücher aus den Händen schlug, ihre Notizen in Brand steckte und ihre Schreibfedern zerbrach. Und die Notwendigkeit, diesen Bücherkoffer mit Magie zu schützen, hatte noch einen zusätzlichen Vorteiclass="underline" Sie verstand sich von Tag zu Tag besser darauf, einen Schild aufrechtzuerhalten.
Als sie aus dem Badehaus in die Universität zurückkehrte, hatte sich vor ihrem Klassenzimmer eine kleine Schar braun gewandeter Novizen versammelt, die die Köpfe zusammensteckten. Sonea wusste, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Etwa hundert Schritte entfernt stand ein Magier. War er nah genug, um möglichen Unfug zu bemerken? Wahrscheinlich.
So lautlos wie nur möglich näherte sich Sonea den Novizen. Als sie nur noch wenige Schritte vom Klassenzimmer entfernt war, drehte der Magier sich plötzlich um und ging die Treppe hinunter. Zur gleichen Zeit blickte Issle auf und entdeckte Sonea.
»Igitt!« Issles klare Stimme schallte durch den Flur. »Was ist das für ein Gestank?«
Regin folgte ihrem Blick und lächelte. »Das ist der Gestank der Hüttenviertel. Er wird stärker, je näher man ihm kommt.« Er trat vor Sonea hin und betrachtete ihren Bücherkoffer. »Vielleicht hat sie ja in ihrem neuen Koffer etwas, das stinkt, hm?«
Regin streckte die Hand nach dem Bücherkoffer aus, und Sonea wich zurück. In diesem Moment trat ein hoch gewachsener, schwarz gewandeter Mann aus dem Gang neben ihnen, und Regin erstarrte mitten in der Bewegung.
Sonea hatte sich zwar vor Regin in Sicherheit gebracht, war dadurch aber dem Magier praktisch vor die Füße gelaufen. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Einzige war, die sich noch bewegte; alle anderen Novizen standen stocksteif da und starrten den Magier an.
Den schwarz gewandeten Magier. Den Hohen Lord.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine Stimme: Er ist es! Lauf! Sie stolperte hastig einige Schritte, um ihm aus dem Weg zu gehen. Nein, dachte sie dann, du darfst keine Aufmerksamkeit erregen. Verhalte dich so, wie er es von dir erwartet. Sie bemühte sich darum, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, dann verneigte sie sich respektvoll.
Er ging weiter, ohne sie auch nur anzusehen. Die anderen Novizen folgten ihrem Beispiel und verbeugten sich ebenfalls. Sonea beschloss, die Ablenkung zu nutzen, und schlüpfte an Regin vorbei ins Klassenzimmer.
Sofort entspannte sich die Situation. Die Novizen im Raum lümmelten sich auf ihren Stühlen, und Lord Vorel war so auf seine Arbeit an der Tafel konzentriert, dass er Soneas Verbeugung gar nicht bemerkte. Sie setzte sich neben Poril, schloss die Augen und stieß einen langen Seufzer aus.
In diesen wenigen Momenten, da alle anderen vor Überraschung praktisch erstarrt waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als gäbe es auf der Welt nur sie und die dunkle Gestalt aus ihren Albträumen. Und sie hatte sich vor ihm verneigt. Sie blickte auf ihre Hände hinab, die noch immer den Griff ihres Bücherkoffers umklammert hielten. Sie verbeugte sich inzwischen so oft, dass sie sich kaum noch etwas dabei dachte. Aber dies war etwas anderes gewesen. Es machte sie wütend. Sie wusste, was er war, wozu er fähig war…
Plötzlich kratzten etliche Stühle über den Boden, und die Novizen um sie herum erhoben sich. Sonea folgte ihrem Beispiel. Die letzten Schüler waren inzwischen hereingekommen, und sie hatte nicht gehört, dass Lord Vorel die Klasse angesprochen hatte. Der Krieger deutete auf die Tür, und die Novizen gingen einer nach dem anderen hinaus. Verwirrt eilte Sonea hinter Poril her.
»Lass deine Bücher hier, Sonea«, sagte Vorel.
Sonea sah sich um und stellte fest, dass die anderen Novizen ihre Sachen ebenfalls zurückgelassen hatten. Widerstrebend ging sie noch einmal zu ihrem Pult und stellte ihren Bücherkoffer darauf, dann lief sie hinter ihren Klassenkameraden her.
Die Novizen tuschelten aufgeregt miteinander - alle bis auf Poril, der plötzlich krank aussah.
»Wohin gehen wir?«, flüsterte sie.
»In d-die Arena«, antwortete er mit zitternder Stimme.
Soneas Herz setzte einen Schlag aus. Die Arena. Bisher hatten die Lektionen in Kriegskunst ausschließlich aus Geschichtsunterricht und endlosen Anweisungen bestanden, wie man Barrieren schuf. Sämtliche Stunden hatten in den Klassenzimmern der Universität stattgefunden. Sonea hatte gewusst, dass man sie irgendwann in die Arena führen würde, wo sie die kämpferische Seite dieser Disziplin kennen lernen würden.
Ein seltsames Gefühl erfasste die Klasse, als sie die Treppen hinuntergingen und die Universität verließen. Vor fast einem Jahr hatte Rothen Sonea in die Arena mitgenommen, damit sie sich ein Bild von den Kriegskünsten machen konnte. Diese Demonstration war Teil seines Versuches gewesen, sie dazu zu überreden, der Gilde beizutreten. Seit jenem Tag war sie nie wieder in der Arena gewesen. Es war eine verstörende Erfahrung für sie gewesen, die Novizen dabei zu beobachten, wie sie einander Magie entgegenschleuderten. Das Geschehen hatte sie zu sehr an den Tag erinnert, an dem sie einen Stein nach den Magiern geworfen hatte. Und in der Folge hatten die Magier unbeabsichtigt den Jungen getötet, den sie für diesen Angriff verantwortlich machten…
Es war ein simples Versehen gewesen, aber es hatte dennoch einen unschuldigen Jungen in einen verkohlten Leichnam verwandelt. Die Lektionen, die sich um das Thema Sicherheit drehten, schienen den anderen Novizen leicht zu fallen, aber Sonea machten sie jedes Mal Angst. Die Frage, wie oft solche Missgeschicke sich ereignen mochten, ließ sie einfach nicht los.
Regin, Hal und Benon gingen mit sichtlichem Eifer durch den Garten voran. Die allgemeine Erregung schien selbst Narron und Trassia erfasst zu haben. Der Gedanke, sie könnten womöglich ein Mitglied eines der Häuser oder eine ranghohe Persönlichkeit aus einem anderen Land töten, würde sie vielleicht ernüchtern. Aber hätten sie auch Probleme mit der Vorstellung, ein ehemaliges Hüttenmädchen zu töten?
Als sie den flachen Bereich außerhalb der Arena erreichten, blickte Sonea zu den acht Türmen hinauf, die das Feld umstanden. Sie konnte eine schwache Vibration in der Luft spüren, die magische Barriere, die von den Türmen aus gespannt war. Den Sockel des Gebäudes bildete ein in den Boden eingelassener steinerner Kreis, der mit weißem Sand bedeckt war. Die Türme standen in regelmäßigen Abständen um diese Fläche herum. Von ihren Sockeln führten steinerne Stufen bis zur Höhe des Gartens empor. An einer Seite der Arena befand sich ein quadratisches Portal, das über eine kurze, unterirdische Treppe in die eigentliche Kampfbahn führte.