»Warum nicht…?« Plötzlich wusste er die Antwort. Die Regeln der Gilde. Ein Ankläger musste sich einer Wahrheitslesung unterziehen. Das konnte Sonea nicht riskieren. In einem solchen Fall würden womöglich die ihnen anvertrauten Geheimnisse vor der Zeit bekannt werden. Mit einem Gefühl hilfloser Ohnmacht senkte Rothen den Blick zu Boden.
»Glaubt Ihr ihnen?«
Er sah auf. »Natürlich nicht.«
»Ihr habt nicht einmal den leisesten Zweifel?«
»Nicht einmal den leisesten.«
»Vielleicht solltet Ihr aber Zweifel haben«, erwiderte sie verbittert. »Alle anderen haben doch nur darauf gewartet, dass so etwas passiert. Es spielt keine Rolle, was ich sage oder tue. Sie wissen, dass ich früher gestohlen habe, deshalb denken sie, dass ich es wieder tun werde, ob ich nun einen Grund dazu habe oder nicht.«
»Sonea«, erwiderte er leise. »Was du sagst, macht sehr wohl einen Unterschied. Das weißt du. Nur weil du vor langer Zeit aus Not gestohlen hast, bedeutet das nicht, dass du es jetzt wieder tun würdest. Wenn du eine Art zwanghaften Drang zum Stehlen verspürtest, hätten wir inzwischen längst Beweise dafür. Du solltest den Diebstahl leugnen, selbst wenn du annimmst, dass niemand dir glauben wird.«
Sie nickte, aber er war keineswegs sicher, dass seine Worte sie überzeugt hatten. Als der Mittagsgong erklang, stieß Rothen sich von der Wand ab.
»Komm, ich lade dich zum Essen ein. Wir haben schon seit Wochen nicht mehr zusammen zu Mittag gegessen.«
Sie lächelte grimmig. »Ich schätze, dass ich im Speisesaal ohnehin für eine Weile nicht mehr willkommen sein werde.«
14
Schlechte Neuigkeiten
Einer nach dem anderen defilierten die Novizen an Lord Elbens Tisch vorbei, und jeder nahm sich einen Glaskrug. Da Sonea um die feindseligen Blicke wusste, mit denen die anderen sie bedenken würden, wenn sie sich zu ihnen gesellte, wartete sie ab. Zu ihrem Entsetzen war Regin der Letzte, der sich dem Tisch näherte. Als er sie sah, zögerte er kurz, dann machte er einen Schritt nach vorn und griff nach den beiden letzten Krügen. Lord Elben runzelte die Stirn, während Regin beide Krüge begutachtete, aber als der Lehrer den Mund öffnete, hielt Regin einen der Krüge Sonea hin.
»Hier.«
Sie wollte danach greifen, aber kurz bevor ihre Finger das Glas berührten, fiel es Regin aus der Hand und zersplitterte auf dem Boden.
»Oh, das tut mir aber Leid«, rief Regin. Er brachte sich vor den Glassplittern in Sicherheit. »Wie unbeholfen von mir.«
Lord Elben blickte über seine lange Nase hinweg zu Regin hinüber, dann zu Sonea. »Regin, such dir einen Diener, der das aufwischt. Sonea, du wirst bei dieser Lektion nur Beobachterin sein.«
Sonea kehrte, keineswegs überrascht, zu ihrem Platz zurück. Der »Diebstahl« von Narrons Schreibfeder hatte mehr verändert als nur die Meinung der Novizen über sie. Vor dem »Diebstahl« hätte Elben Regin befohlen, Sonea das letzte Glas zu geben, oder er hätte ihn weggeschickt, um einen neuen Krug zu holen.
Der »Diebstahl« hatte offensichtlich nur bestätigt, was die Novizen und die Lehrer bereits argwöhnten. Soneas offizielle Strafe bestand daran, dass sie jeden Abend für eine Stunde in der Novizenbibliothek Bücher in die Regale einzuräumen hatte, was sich als ein recht vergnügliches Unterfangen erwiesen hatte - jedenfalls, wenn Regin nicht irgendwo herumlungerte, um ihr die Arbeit zu erschweren. Die Strafe hatte bereits am letzten Vierttag geendet, aber nach wie vor behandelten Novizen und Lehrer sie mit Argwohn und Verachtung.
Die meiste Zeit wurde sie in der Klasse einfach ignoriert. Aber wenn sie einem anderen Novizen zu nahe kam oder es wagte, jemanden anzusprechen, bekam sie zur Antwort nur einen kalten Blick. Sie hatte nicht versucht, sich im Speisesaal wieder zu den anderen zu setzen. Stattdessen pflegte sie nun wieder ihre alte Gewohnheit, das Mittagessen ausfallen zu lassen oder es mit Rothen einzunehmen.
Nicht alles hatte sich jedoch zum Schlechteren gewendet. Jetzt, da sie wusste, dass ihre Kräfte so viel stärker waren als die der anderen Novizen, hatte sie neues Selbstbewusstsein erlangt. Sie brauchte ihre Stärke nicht für die Bewältigung der Lehrübungen zu schonen, wie man es den Novizen immer wieder einschärfte, und konnte sich ständig mit einem starken Schild umgeben, der sie vor Wurfgeschossen, Rippenstößen oder anderen Gemeinheiten schützte. Das bedeutete, dass sie mühelos an Regin und seinen Gefolgsleuten vorbeikam, wenn sie sie in den Fluren umstellten.
Ihre Zimmertür wurde durch einen eigenen Schild geschützt, und das Gleiche galt für ihr Fenster und ihren Bücherkoffer. Sie war es gewohnt, bei Tag und Nacht Magie zu benutzen, und doch war sie niemals müde oder geschwächt. Nicht einmal nach einer besonders kräftezehrenden Stunde in den Kriegskünsten.
Aber sie war allein. Seufzend blickte sie auf den leeren Stuhl vor sich. Poril hatte sich eine Woche zuvor beim Lernen die Hände verbrannt. Sie vermisste ihn, vor allem da es ihm offensichtlich gleichgültig war, dass man ihr angeblich einen Diebstahl nachgewiesen hatte.
»Lord Elben?«
Sonea hob den Kopf. In der Tür stand eine Frau in grüner Robe. Sie trat beiseite und stieß einen zierlichen Novizen mit sanfter Gewalt in den Raum. Sofort wurde Sonea ein wenig leichter ums Herz.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es Poril wieder gut genug geht, um dem Unterricht beizuwohnen. Er wird immer noch nichts mit den Händen tun können, aber er kann zusehen.«
Porils Blick flog direkt zu Regin, dann wandte er sich hastig ab, verbeugte sich vor Lord Elben und eilte zu seinem Platz. Die Heilerin nickte dem Lehrer zu und verließ den Raum.
Während Elben der Klasse neue Anweisungen gab, blickte Sonea von Zeit zu Zeit zu ihrem Freund hinüber. Poril schien dem Unterricht keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er saß nur steif da und betrachtete seine Hände, die von frischen, roten Narben überzogen waren. Als Stunden später der Mittagsgong erklang, wartete Poril, bis die übrigen Novizen gegangen waren, dann stand er hastig auf und eilte zur Tür hinüber.
»Poril«, rief sie ihm nach. Sie verbeugte sich hastig vor Elben und holte den Jungen mit wenigen Schritten ein. »Willkommen, Poril.« Als er sie ansah, lächelte sie. »Brauchst du Hilfe, um die Lektionen nachzuarbeiten?«
»Nein.« Er runzelte die Stirn und beschleunigte seinen Schritt.
»Poril?« Sonea hielt ihn am Arm fest. »Was ist los?«
Poril betrachtete zuerst sie, dann den Rest der Klasse weiter unten im Flur. Regin hatte sich ein wenig zurückfallen lassen und drehte sich jetzt nach ihnen um. Die Art, wie er lächelte, ließ Sonea frösteln.
Auch Poril schauderte. »Ich kann nicht mit dir reden. Ich kann nicht.« Er schüttelte ihre Hand ab.
»Aber…«
»Nein, lass mich in Ruhe.« Er wollte weitergehen, aber sie griff erneut nach seinem Arm und hielt ihn fest.
»Ich werde dich nicht in Ruhe lassen, bevor du mir erklärt hast, was hier los ist«, stieß sie hervor.
Er zögerte mit der Antwort. »Es ist Regin.«
Als sie Porils bleiches Gesicht sah, krampfte sich ihr Magen zusammen. Er blickte immer wieder zu den anderen Novizen hinüber, und sie wusste, dass er ihr nicht mehr darüber erzählen wollte. Er wollte nur weg von ihr. »Was hat er gesagt?«, bedrängte sie ihn.
Poril schluckte. »Er sagt, ich darf nicht mehr mit dir reden. Es tut mir Leid…«
»Und du wirst einfach tun, was er sagt?« Es war unfair, das wusste sie, aber inzwischen war heiße Wut in ihr aufgestiegen. »Warum hast du ihm nicht erklärt, er solle sich im Tarali ertränken?«
Poril hob seine vernarbten Hände. »Das habe ich ja getan.«
Soneas Wut verwandelte sich in Eis. Sie starrte Poril an. »Er war das?«
Porils Nicken war so schwach, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätte. Sie blickte den Flur hinunter, aber die Klasse hatte bereits die Treppe erreicht und war außer Sicht.
»Das ist… Warum hast du es niemandem erzählt?«
»Ich kann es nicht beweisen.«