Eine Wahrheitslesung hätte es bewiesen. Hatte Poril genau wie sie ein Geheimnis, das er verborgen hielt? Oder machte ihm die Vorstellung, ein Magier könnte seine Gedanken lesen, solche Angst, dass er alles tun würde, um es zu vermeiden?
»Man kann ihm nicht durchgehen lassen, dass er dir die Hände verbrennt, nur weil du mein Freund bist«, knurrte sie. »Wenn er dich noch einmal bedroht, sag es mir. Ich werde… ich werde…«
»Was? Du kannst nichts tun, Sonea.« Er war rot geworden. »Es tut mir Leid, aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht.« Er wandte sich ab und rannte den Flur hinunter.
Kopfschüttelnd folgte Sonea ihm in einigem Abstand. Als sie die Treppe erreichte, ging sie langsam hinunter. Unten angekommen hörte sie ein leises Dröhnen, das von der Großen Halle kam. Sie blinzelte überrascht.
Die Halle war voller Magier. Sie standen zu zweit oder in größeren Gruppen beisammen und unterhielten sich. Sonea blieb stehen und fragte sich, welcher Anlass so viele von ihnen hierher geführt haben mochte. Heute war kein Versammlungstag, daher musste es einen anderen Grund geben.
»Ich an deiner Stelle würde keine Aufmerksamkeit auf mich lenken«, erklang eine Stimme dicht an ihrem Ohr.
Sie drehte sich um. Regin starrte sie an.
»Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass sie eine Ratte übersehen haben«, sagte er, und in seinen Augen lag ein hämischer Glanz.
Sie wich vor ihm zurück; sie war zwar verwirrt, wusste aber gleichzeitig, dass sie gar nicht erfahren wollte, wovon er geredet hatte. Als er das Unverständnis in ihren Zügen sah, lachte er boshaft auf und trat einen Schritt auf sie zu.
»Oh, du kapierst es nicht, hm?« Sein Grinsen war hässlich. »Hattest es wohl vergessen? Heute ist für Abschaum wie dich der größte Festtag des Jahres. Der Tag der Säuberung.«
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Die Säuberung. Seit vor über dreißig Jahren die erste Säuberung stattgefunden hatte, sandte der König in jedem Jahr die Garde und die Gilde aus, um die Straßen der Stadt von »Vagabunden und Missetätern« zu reinigen. Der Zweck des Unternehmens, so behauptete jedenfalls der König, bestand darin, die Straßen sicherer zu machen, indem man schäbige kleine Diebe von dort wegschaffte. In Wahrheit stellte die Säuberung für die Diebe nicht einmal eine ernsthafte Unannehmlichkeit dar; sie hatten ihre eigenen Wege in die Stadt und wieder heraus. Nur die armen, obdachlosen Menschen wurden in die Hüttenviertel zurückgetrieben. Und, im Fall ihrer eigenen Familie vor einem Jahr, auch jene, die Räume in »überfüllten und gefährlichen« Bleibehäusern gemietet hatten. Sonea war an jenem Tag so wütend gewesen, dass sie sich einer Bande Jugendlicher angeschlossen hatte, die die Magier mit Steinen bewarfen, und bei dieser Gelegenheit waren zum ersten Mal ihre Kräfte entfesselt worden.
Regin lachte vor Wonne. Sonea kämpfte ihren Ärger nieder und zwang sich weiterzugehen. Regin versperrte ihr jedoch den Weg. Sein Gesicht war verzerrt von Triumph und grausamer Befriedigung, und Sonea war dankbar dafür, dass keine Novizen an der Säuberung teilnahmen. Dann dachte sie an die Zukunft und schauderte. Offensichtlich freute sich Regin schon auf den Tag, an dem er seine Kräfte nutzen konnte, um hilflose Bettler und notleidende Familien aus der Stadt zu vertreiben.
»Lauf nicht weg«, sagte Regin und deutete mit dem Kopf auf die Halle. »Möchtest du deinen Mentor nicht fragen, ob er sich gut amüsiert hat?«
Rothen? Er würde doch nicht… In der festen Überzeugung, dass Regin sich wieder einmal einen seiner bösen Scherze mit ihr erlaubte, drehte sie sich um. Sie ließ den Blick über die Gestalten in der Halle wandern und entdeckte in einer Gruppe ganz in ihrer Nähe ein vertrautes Gesicht. Rothen.
Plötzlich war ihr kalt. Wie konnte er sich an der Säuberung beteiligen, obwohl er doch wusste, wie sie dazu stand? Aber andererseits konnte er sich dem Befehl des Königs nicht widersetzen…
Oh doch, das konnte er! Nicht alle Magier beteiligen sich an der Säuberung. Er hätte einen anderen an seiner Stelle schicken können!
Als hätte er ihren Blick gespürt, sah Rothen jetzt in ihre Richtung. Als er Regin an ihrer Seite bemerkte, runzelte er die Stirn.
Regin kicherte. Plötzlich hatte Sonea nur noch den Wunsch fortzukommen. Sie drehte sich um und ging an Regin vorbei hinaus ins Freie. Regin folgte ihr und verhöhnte sie, bis sie die Magierquartiere erreicht hatten und er endlich von ihr abließ. In Rothens Quartier angekommen, stellte sie erleichtert fest, dass niemand dort war. Sie wollte auch Tania im Moment nicht sehen, weil sie befürchtete, sie würde die Dienerin vielleicht aus purer Verärgerung ungerecht anfahren.
Kurze Zeit später wurde jedoch die Tür geöffnet.
»Sonea.«
Rothen betrachtete sie mit entschuldigender Miene. Sie antwortete nicht, sondern trat ans Fenster und starrte hinaus.
»Es tut mir Leid, ich weiß, dass dir das wie ein Verrat vorkommen muss«, sagte er. »Ich wollte dir erzählen, dass ich mit den anderen in die Stadt fahren würde. Aber ich habe es immer wieder hinausgeschoben, und ich habe erst heute Morgen in aller Frühe erfahren, dass die Säuberung an diesem Tag stattfinden sollte.«
»Ihr hättet es nicht tun müssen«, sagte sie. Ihre Stimme klang wie die einer Fremden, dunkel vor Zorn.
»Oh doch, ich musste es tun«, widersprach er.
»Nein, das ist nicht wahr. Ihr hättet einen anderen an Eurer Stelle hinschicken können.«
»Das stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich in die Stadt musste.« Er kam näher, und seine Stimme klang tief und sanft. »Sonea, ich musste hingehen, um dafür zu sorgen, dass keine Fehler gemacht werden. Wenn ich nicht hingegangen wäre, und es wäre etwas passiert…« Er seufzte. »Wir waren diesmal alle sehr befangen. Es mag schwer zu glauben sein, aber die Ereignisse des vergangenen Jahres haben das Selbstvertrauen der Gilde schwer erschüttert. Ob es nun an der Angst lag, abermals Fehler zu machen, oder« - er kicherte - »an der Befürchtung, auf einen weiteren Hüttenbewohner mit magischem Potenzial zu stoßen, spielt keine Rolle. Die Gilde brauchte jemanden, der die Dinge im Auge behielt.«
Sonea senkte den Blick. Das klang vernünftig. Ihre Wut verrauchte. Seufzend drehte sie sich zu Rothen um und brachte ein Nicken zustande. Er lächelte hoffnungsvoll.
»Verzeihst du mir?«
»Das muss ich wohl«, antwortete sie widerstrebend. Ihr Blick fiel auf den Tisch, wo Tania wohlschmeckendes Brot und andere kalte Speisen hingestellt hatte.
»Komm, lass uns etwas essen«, sagte Rothen.
Sonea nahm die Einladung an.
Die Kutsche der Gilde fuhr vor einem schlichten, zweistöckigen Gebäude vor. Als Lorlen ausstieg, schenkte er den verblüfften Blicken der Passanten auf der Straße keine Beachtung, sondern ging unverzüglich auf den Eingang der Ersten Stadtwache zu. Ein Diener öffnete ihm die Tür.
Der Raum, in dem er sich kurz darauf wiederfand, war geschmackvoll, wenn auch nicht allzu kostspielig eingerichtet. An den Wänden standen bequeme Sessel, und die Atmosphäre erinnerte Lorlen an den Abendsaal in der Gilde. Durch einen Flur, der von der Halle abzweigte, gelangte man in die übrigen Teile des Gebäudes.
»Administrator.«
Derrils Sohn hatte sich bei Lorlens Eintritt aus einem der Sessel erhoben.
»Hauptmann Barran. Meinen Glückwunsch zu Eurem neuen Rang.«
Der junge Mann lächelte. »Vielen Dank, Administrator.« Er deutete auf den Flur. »Begleitet mich in mein Büro, dann werde ich Euch die jüngsten Neuigkeiten erzählen.«
Barran führte Lorlen zu einer Tür am Ende des Ganges. Dahinter lag ein kleiner, aber behaglicher Raum, in dessen Mitte ein Schreibtisch stand. Barran bedeutete Lorlen, auf einem von zwei Stühlen Platz zu nehmen, dann setzte er sich auf den anderen.
»Euer Vater sagte, Ihr hättet Eure Meinung über die Frau, von der wir gesprochen haben, geändert«, begann Lorlen. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, denkt Ihr jetzt, es sei Mord gewesen.«