Ein Knacken zu ihrer Linken ließ sie abermals innehalten. Als sie ein ersticktes Lachen hörte, erstarrte sie. Ihr Plan war gescheitert.
»Guten Abend, Sonea.«
Sie fuhr herum und sah eine vertraute Silhouette zwischen den Bäumen. Entschlossen schuf sie eine Lichtkugel, und die Dunkelheit wich zurück. Regin blieb stehen und lächelte, während zwei weitere Gestalten hinter ihm auftauchten: Issle und Alend. Dann hörte sie Geräusche aus allen Richtungen, und nun tauchten auch Gennyl, Vallon und Kano aus der Dunkelheit auf.
»Ein schöner Abend für einen Spaziergang im Wald«, bemerkte Regin und sah sich um. »So still. So friedlich. Niemand, der uns stört.« Er kam einen Schritt näher. »Die Lehrer lassen dir keine Sonderbehandlung mehr zukommen, nicht wahr? So ein Pech. Es ist wirklich nicht fair, dass man uns zusätzliche Aufmerksamkeit schenkt und dir nicht. Also dachte ich, ich gebe dir selbst ein wenig Unterricht.«
Das Knirschen des Schnees sagte Sonea, dass die Novizen hinter ihr näher kamen. Sie verstärkte ihren Schild, aber zu ihrer Überraschung gingen die anderen um sie herum und traten hinter Regin.
»Nun«, fuhr Regin fort, »vielleicht sollte ich dir einige der Dinge beibringen, die Lord Balkan mir gezeigt hat.« Er sah die anderen an und nickte. »Ja, ich denke, das würde dich interessieren.«
Soneas Mund wurde trocken. Sie hatte gewusst, dass Regin zusätzlichen Unterricht in den Kriegskünsten nahm; neu war ihr hingegen, dass sein Lehrer kein Geringerer war als Lord Balkan, das Oberhaupt dieser Disziplin. Als Regin die Hände hob, rückten die anderen Novizen näher an ihren Anführer heran und legten ihm ihrerseits die Hände auf die Schultern.
»Verteidige dich«, sagte Regin und äffte dabei Lord Vorels Befehlston nach.
Sonea ließ noch mehr Magie in ihren Schild fließen und blockte den Zustrom von Energie ab, den Regin ihr entgegenschleuderte. Seine Angriffe waren schwach, wurden aber beständig massiver, bis sie stärker waren als alles, was ihr in der Arena je begegnet war. Überrascht gab sie mehr und mehr von ihrer Magie in ihren Schild hinein.
Wie war das möglich? Sie hatte oft genug mit Regin gekämpft, um seine Stärke zu kennen. Er war ihr bisher immer sehr viel schwächer erschienen. Hatte er sich zurückgehalten und nur darauf gewartet, dass er ihr in einer solchen Situation seine wahre Stärke zeigen konnte?
Ein hässliches Grinsen verzerrte Regins Gesicht, und er machte einen Schritt auf sie zu. Plötzlich wurde der Angriff schwächer und brach dann ganz ab, während der Junge die anderen anstarrte. Hastig traten nun auch sie wieder vor, um ihm abermals die Hände auf die Schultern zu legen.
Als sie die Verbindung wieder hergestellt hatten, setzte Regin seinen Angriff fort. Sonea überlegte, was das bedeuten mochte. Offensichtlich liehen die anderen ihm ihre Kraft. Sie hatte noch nie gehört, dass das möglich war, aber andererseits gab es im Bereich der Kampfkünste viele Dinge, von denen sie nichts wusste - oder die ihr in Vorels quälend langweiligem Unterricht entgangen waren.
Magie summte in der Luft um sie herum. Der Schnee zwischen ihnen war zu zischenden Pfützen geschmolzen. So viel Kraft… Der Gedanke daran, dass diese Kraft sich gegen sie richtete, war erschreckend, und ihr Herz begann zu rasen. Wenn es ihr nicht gelang, ihren Schild aufrechtzuerhalten, würden die Konsequenzen kurz sein - und verhängnisvoll. Er ging ein ungeheures Risiko ein… Oder irrte sie sich da?
Was ist, wenn er mich töten will?
Aber das würde er nicht tun. Man würde ihn aus der Gilde ausstoßen.
Aber als sie sich Regin vor den versammelten Magiern in der Gildehalle vorstellte, konnte sie beinahe hören, was sie sagen würden. Ein bedauerlicher Unfall. Man konnte Regin nicht die Schuld an ihren jämmerlichen Fähigkeiten geben. Vier Wochen Arbeit in der Bibliothek und die Ermahnung, dass so etwas nicht mehr vorkommen dürfe.
Wut ersetzte ihre Angst. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass die anderen Novizen einander zweifelnd ansahen. Regin grinste nicht mehr, sondern runzelte konzentriert die Stirn. Er knurrte etwas, und die anderen protestierten. Was sie auch taten, es hatte nicht die Wirkung, die sie erwartet hatten.
Bedeutete das, dass dies der Gipfel ihrer vereinten Stärke war? Sonea lächelte. Sie konnte ihnen mühelos standhalten. Regin hatte sie unterschätzt - und wenn die Lichtkugel über ihnen irgendetwas besagte, dann hatte sie noch immer genug Kraft übrig.
Aber wie sollte diese Geschichte enden? Wenn sie zurückschlug, würde sie den anderen eine Niederlage zufügen. Aber wenn sie sich nicht verteidigen konnten, würde womöglich sie diejenige sein, die sich vor den Höheren Magiern verantworten musste und die man in die Verbannung schicken würde.
Und wenn es ihnen gelang, ebenfalls einen Schild hochzuziehen, würden sie sie den ganzen Weg bis zurück zum Novizenquartier jagen. Wie konnte sie sie abschütteln? Sie blickte zu der Lichtkugel auf. Wenn sie das Licht erlöschen ließ, würden ihre Widersacher einige Sekunden brauchen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In dieser Zeit könnte sie sich davonstehlen. Bedauerlicherweise würde sie selbst ebenfalls mit Blindheit geschlagen sein…
Blindheit…?
Sonea lächelte. Dann presste sie die Augen fest zusammen und streckte ihren Willen aus. Einen Moment lang blitzte Licht hinter ihren Lidern auf, und sie spürte, dass die Angriffe, denen sie ausgesetzt war, schwächer wurden. Als sie die Augen wieder öffnete, blinzelten die Novizen und rieben sich das Gesicht.
»Ich kann nichts sehen!«, rief Kano.
Es hat funktioniert! Grinsend beobachtete sie, wie Alend laut fluchend die Arme ausbreitete und auf dem unebenen Boden beinahe das Gleichgewicht verlor. Issle tastete sich bis zu einem Baum vor und umschlang ihn dann so fest, als befürchtete sie, er könnte davonlaufen.
Sonea machte einen Schritt rückwärts. Als Regin das Knirschen des Schnees hörte, streckte er die Hand aus und kam auf sie zu. Sein Stiefel landete in einer Schlammpfütze und glitt zur Seite weg. Im nächsten Moment lag der Junge mit dem Gesicht nach unten im Morast. Mit einem angewiderten, wütenden Aufschrei raffte er sich wieder auf.
Sonea erstickte ein Lachen. Ein mörderischer Ausdruck erschien auf Regins Gesicht, und er machte einen Satz auf sie zu. Sonea wich den suchenden Händen geschickt aus.
»Vielen Dank für die Lektion, Regin. Ich hätte nie gedacht, dass du ein Mann von solcher Weitsicht bist.«
Kichernd wandte sie sich ab und ging auf die Lichter der Universität zu.
16
Die Regeln der Anklage
Rothen baute gerade eine komplizierte Konstruktion aus Röhren, Ventilen und Glaskugeln ab, als ein junger Mann in Dienstbotenkleidung in der Tür des Klassenzimmers auftauchte. Die grüne Schärpe, die er um die Taille trug, wies ihn als einen Boten der Heiler aus.
»Ja?«, sagte Rothen.
»Lady Vinara erbittet Eure Anwesenheit im Heilerquartier.«
Rothens Herz setzte einen Schlag aus. Was konnte Vinara von ihm wollen? War Sonea etwas zugestoßen? War einer von Regins Streichen zu weit gegangen? Oder handelte es sich um jemand anderen? Um seinen alten Freund Yaldin vielleicht? Oder um Ezrille, dessen Frau?
»Ich werde in Kürze dort sein«, erwiderte er.
Der Bote verbeugte sich und eilte davon. Rothen sah den Novizen an, der zurückgeblieben war, um ihm zur Hand zu gehen. Farind lächelte.
»Ich werde die Versuchsanordnung allein abbauen, wenn Ihr wollt, Mylord.«
Rothen nickte. »Also gut. Aber sei vorsichtig, wenn du die Säure weggießt.«
»Natürlich.«
Auf dem Weg durch die Flure versuchte Rothen, sich keinen Spekulationen über Vinaras Beweggründe hinzugeben. Er würde es schon bald genug erfahren. Die Abendluft draußen war eiskalt, daher hüllte er sich in einen Schild und wärmte die Luft darin. Als er die Heilerquartiere erreichte, erwartete Lady Vinara ihn bereits im Eingang.