»Ihr habt nach mir schicken lassen?«, fragte Rothen atemlos.
Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Lippen. »Es wäre nicht nötig gewesen, dass Ihr Euch derart beeilt, Lord Rothen«, beruhigte ihn Vinara. »Die Novizen, die behaupten, Opfer Eures Schützlings geworden zu sein, werden nicht gleich das Zeitliche segnen. Wisst Ihr, wo Sonea ist?«
Opfer? Was hatte sie getan? »Wahrscheinlich sitzt sie in ihrem Zimmer und lernt.«
»Ihr habt sie heute Abend nicht gesehen?«
»Nein.« Rothen runzelte die Stirn. »Worum geht es denn?«
»Vor einer Stunde sind sechs Novizen hierher gekommen. Sie behaupten, Sonea habe ihnen im Wald aufgelauert und sie geblendet.«
»Sie geblendet? Wie?«
»Mit einem sehr hellen Licht.«
»Oh.« Rothen entspannte sich, aber als er die grimmige Miene der Heilerin sah, machte er sich von neuem Sorgen. »Es ist doch nicht von Dauer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Keine ihrer Verletzungen sind ernsthaft - und gewiss nicht schlimm genug, dass die Heiler ihre Zeit damit vergeuden müssten. Sie werden sich schon erholen.«
»Haben sie abgesehen von dieser vorübergehenden Blindheit noch weitere Verletzungen davongetragen?«
»Sie haben sich einige Schnittwunden und Prellungen zugezogen, weil sie aus dem Wald herausfinden mussten, ohne etwas sehen zu können.«
»Ich verstehe.« Rothen nickte langsam. »Handelt es sich bei einem dieser Novizen vielleicht um Garrels Schützling Regin?«
»Ja.« Ihre Lippen wurden schmal. »Ich habe gehört, dass Sonea eine besondere Abneigung gegen diesen Jungen hegt.«
Rothen stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, das kann ich Euch versichern. Darf ich mit Regin sprechen?«
»Selbstverständlich. Ich werde Euch zu ihm bringen.« Vinara drehte sich um und ging durch den Hauptflur des Gebäudes.
Während Rothen ihr folgte, dachte er über das Gehörte nach. Er glaubte keinen Moment lang, dass Sonea Regin und seinen Freunden aufgelauert hatte. Viel wahrscheinlicher war, dass sie Sonea in einen Hinterhalt gelockt hatten. Aber irgendetwas war offensichtlich schief gegangen.
Möglicherweise hatten sie sich selbst geblendet, um Sonea die Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, aber er bezweifelte es. Wenn sie etwas Derartiges vorgehabt hätten, hätten sie dafür gesorgt, dass andere sie finden und ins Heilerquartier führen würden. Da sie nicht einmal mittels Gedankenrede um Hilfe gebeten hatten, lag die Vermutung nahe, dass sie keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation hatten lenken wollen.
Vinara blieb vor einer Tür stehen und bedeutete ihm einzutreten. Auf einem Bett in einer Ecke des Raums entdeckte Rothen einen vertrauten jungen Mann in schlammbespritzter Robe. Regins Gesicht war gerötet, er hatte die Fäuste geballt, und in seinen Augen loderte ein wildes Feuer, während er den Blick fest auf eine Stelle an der Wand hinter seinem Mentor Lord Garrel gerichtet hielt.
Als der Magier Rothen bemerkte, verdüsterte sich seine Miene. Rothen beachtete ihn nicht, sondern lauschte Regin, der soeben das Ende einer langen, wütenden Schimpftirade erreichte.
»Ich schwöre, sie hat versucht, uns umzubringen! Ich kenne das Gesetz der Gilde. Sie muss ausgestoßen werden!«
Rothen sah zuerst Vinara an, dann wieder den Jungen, und er hatte Mühe, sich ein Lächeln zu verkneifen. Wenn Regin an das Gesetz der Gilde appellierte, sollte ihm das nur recht sein.
»Das ist eine sehr schwerwiegende Anklage, Regin«, sagte er ruhig. »Und es wäre sehr unpassend, wenn dein Mentor die Wahrheit deiner Aussage überprüfen würde.« Er wandte sich wieder an die Frau an seiner Seite. »Vielleicht könnte Lady Vinara jemanden vorschlagen.«
Vinara blinzelte, dann trat ein erheitertes Funkeln in ihre Augen, als ihr klar wurde, was Rothen meinte.
»Ich werde die Wahrheitslesung durchführen«, sagte sie.
Regin sog scharf die Luft ein. Rothen stellte zu seiner Befriedigung fest, dass der Junge schneeweiß geworden war. »Nein, ich meinte nicht…«, stotterte er. »Ich wollte nicht…«
»Dann ziehst du deine Anklage also zurück?«, hakte Rothen nach.
»Ja«, stieß Regin hervor. »Ich ziehe meine Anklage zurück.«
»Was ist heute Abend wirklich passiert?«
»Ja«, warf Vinara mit finsterem Tonfall ein. »Warum hat Sonea euch angegriffen, wie ihr behauptet?«
»Sie wollte offensichtlich dafür sorgen, dass die anderen für einige Tage nicht am Unterricht teilnehmen können«, antwortete Garrel.
»Ich verstehe«, sagte Rothen. »Was wird denn in den nächsten Tagen geschehen, dass sie den Wunsch haben könnte, euch davon auszuschließen?«
»Das weiß ich nicht… Ich nehme an, sie wollte uns einfach Schaden zufügen.«
»Und deshalb ist sie sechs Novizen in den Wald gefolgt« - Rothen warf Vinara einen bedeutungsvollen Blick zu - »in der festen Überzeugung, dass sie eure vereinten Kräfte überwinden könnte? Sie muss sich besser auf die Kriegskünste verstehen, als ihre Zensuren es erkennen lassen.«
Regins blicklose Augen suchten seinen Mentor.
»Was habt ihr, du und deine Kameraden, überhaupt im Wald zu suchen gehabt?«, fragte Vinara.
»Wir wollten uns einfach… etwas umsehen. Zum Spaß.«
»Nun«, sagte sie, »deine Freunde erzählen aber etwas ganz anderes.«
Regin öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Garrel erhob sich. »Mein Novize ist verletzt worden und braucht Ruhe. Diese Befragung hat doch sicher Zeit, bis er sich erholt hat.«
Rothen zögerte, dann kam er zu dem Schluss, dass seine Idee das Risiko wert sei. Er wandte sich an Vinara. »Lord Garrel hat Recht. Wir brauchen Regins Antworten nicht zu hören. Sonea wird sicher bereit sein, sich einer Wahrheitslesung zu unterziehen, um ihre Unschuld zu beweisen.«
»Nein!«, rief Regin.
Vinaras Augen wurden schmal. »Wenn sie nichts dagegen hat, kannst du es nicht verhindern, Regin.«
Der Novize schnitt eine Grimasse, als hätte er einen widerlichen Geschmack im Mund. »Also gut. Ich werde alles erzählen. Wir sind Sonea in den Wald gefolgt und haben ihr einen Streich gespielt. Es war nichts Gefährliches. Wir wollten bloß… üben, was wir im Unterricht gelernt haben.«
»Ich verstehe.« Vinaras Stimme klang eisig. »Dann erzählst du uns jetzt besser, was für ein Streich das war - und vergiss nicht, dass Soneas Gedächtnis jedes deiner Worte bestätigen oder widerlegen wird.«
Seufzend schob Sonea ein Stück Papier zwischen die Seiten ihres Buches und stand auf, um die Tür zu öffnen. Allerdings tat sie es mit großer Vorsicht und wappnete sich gleichzeitig gegen einen magischen Angriff für den Fall, dass Regin versuchen sollte, mit Gewalt in ihr Zimmer einzudringen. Zu ihrer Überraschung stand Lord Osen draußen im Flur.
»Verzeih die Störung«, sagte Lord Osen. »Administrator Lorlen möchte dich in seinem Büro sehen.«
Sonea starrte ihn an, und kalte Furcht krampfte ihr den Magen zusammen. Der Administrator… Sie hatte seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen. Was wollte er? Hatte es etwas mit dem Hohen Lord zu tun? Hatte Akkarin herausgefunden, dass sie sein Geheimnis kannte?
»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte Osen ihr lächelnd. »Er möchte dir lediglich ein paar Fragen stellen.«
Kurz darauf folgte sie dem Magier durch den Innenhof bis zum Hintereingang der Universität. Ihre Schritte hallten in dem leeren Flur wider. Als Osen die Tür zum Büro des Administrators öffnete, sog Sonea scharf die Luft ein. Eine beträchtliche Anzahl von Magiern hatte sich in dem Raum eingefunden. Einige saßen auf Stühlen, andere standen. Als sie eintrat, bemerkte sie, dass die meisten der Höheren Magier zugegen waren.
Bei Rothens Anblick atmete sie erleichtert auf, doch dann sah sie Lord Garrel, und ihre Schultern sanken mutlos herab. Also ging es um ihre Begegnung mit Regin. Er musste eine schöne Geschichte erzählt haben, um die Höheren Magier aufzuscheuchen.
Rothen winkte sie lächelnd zu sich heran. Sonea kämpfte ihre aufsteigende Übelkeit nieder und trat neben ihn.