»Sonea.«
Sie drehte sich zu Lorlen um, der hinter einem großen Schreibtisch saß. Die Miene des blau gewandeten Magiers war sehr ernst.
»Heute Abend ist zwischen dir und sechs anderen Novizen etwas vorgefallen, das man uns zu Gehör gebracht hat. Wir möchten dich bitten, uns zu erzählen, was sich zugetragen hat.«
Sie sah sich im Raum um und schluckte. »Lord Kiano hat mich zu einer Prüfung mit auf die Felder genommen. Ich bin über den langen Weg zurückgegangen, der um das Heilerquartier herumführt. Im Wald haben Regin und seine Freunde mich aufgehalten.« Sie zögerte und überlegte, wie es sich am besten vermeiden ließ, etwas zu sagen, das man als Anklage auffassen konnte.
»Sprich weiter«, forderte Lorlen sie auf. »Erzähl uns, was passiert ist.«
Sonea holte tief Luft und fuhr fort. »Regin hat gesagt, er wolle mir etwas zeigen, das er von Lord Balkan gelernt habe.« Sie sah zu dem rot gewandeten Magier hinüber. »Dann haben die anderen ihm die Hand auf die Schultern gelegt. Sein Angriff war stärker als gewöhnlich, und ich begriff, dass die anderen ihm irgendwie zusätzliche Kraft gaben.«
»Was hast du getan?«
»Einen Schild hochgezogen.«
»Das war alles?«
»Ich wollte nicht zurückschlagen. Ich hatte Angst, dass die anderen sich vielleicht nicht gut genug schützen würden.«
»Sehr klug von dir. Was ist als Nächstes passiert?«
»Meine Lichtkugel war noch immer nicht erloschen, daher wusste ich, dass ich noch Kraft übrig hatte.«
Jemand sog scharf die Luft ein, und Sonea zuckte zusammen. Als sie sich umdrehte, fing sie einen anerkennenden Blick von Lady Vinara auf.
»Sprich weiter«, sagte Lorlen.
»Ich wusste, dass sie nicht aufgeben würden, und ich musste von ihnen wegkommen, bevor sie etwas anderes versuchten. Also habe ich sie geblendet, um sie daran zu hindern, mir zu folgen.«
Hinter ihr erhob sich leises Gemurmel. Lorlen machte eine knappe Handbewegung, und es kehrte wieder Stille ein.
»Mir kommen da einige Fragen in den Sinn«, sagte er. »Warum hast du den Umweg durch den Wald genommen?«
»Ich wusste, dass sie auf mich warten würden«, antwortete Sonea.
»Wer?«
»Regin und die anderen.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Sie versuchen immer…« Sonea schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste es, Administrator.«
Lorlen nickte. Dann sah er Vinara an.
»Ihre Geschichte stimmt mit der von Regin überein.«
Sonea blinzelte. »Regin hat das erzählt?«
»Regin hat behauptet, du hättest versucht, sie zu töten«, erklärte Rothen leise. »Als ihm klar wurde, dass er sich zum Beweis seiner Anschuldigung einer Wahrheitslesung würde unterziehen müssen, hat er die Anklage zurückgezogen. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass du dich dieser Prozedur unterziehen würdest, um deine Unschuld zu beweisen. Danach ist dann die Wahrheit herausgekommen.«
Sie sah ihn überrascht an. Rothen hatte vorgeschlagen, dass sie sich einer Wahrheitslesung unterziehen sollte? Was wäre passiert, wenn Regin nicht gestanden hätte? Ihr Mentor musste sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein. »Worum geht es dann bei dieser Versammlung? Warum sind all die Höheren Magier hier?«
Rothen hatte keine Gelegenheit, ihr zu antworten.
»Hat noch irgendjemand Fragen an Sonea?«, warf Lorlen ein.
»Ja.« Lord Sarrin straffte sich und trat vor. »Fühlst du dich nach diesem Kampf müde? Erschöpft?«
Sonea schüttelte den Kopf. »Nein, Mylord.«
»Hast du heute Abend noch andere Magie gewirkt?«
»Nein - oder eigentlich doch. Ich habe meine Tür mit einem magischen Schloss belegt.«
Lord Sarrin schürzte die Lippen und sah Lord Balkan an. Der Krieger musterte Sonea nachdenklich.
»Hast du dich in deiner freien Zeit in den Kriegskünsten geübt?«, fragte er.
»Nein, Mylord.«
»Warst du schon früher in Auseinandersetzungen mit anderen Novizen verwickelt, die diese Methode der Kraftbündelung benutzt haben?«
»Nein, ich wusste bisher nicht, dass so etwas möglich ist.«
Lord Balkan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nickte dem Administrator zu. Lorlen sah die anderen Magier an.
»Noch weitere Fragen?«
Als es im Raum still blieb, nickte Lorlen Sonea zu. »Dann darfst du jetzt gehen, Sonea.«
Sie erhob sich und verbeugte sich vor den Magiern, die ihr schweigend nachsahen. Erst nachdem die Tür hinter ihr zugefallen war, hörte sie Stimmen im Raum, zu gedämpft, um sie zu verstehen.
Sie starrte die Tür an, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihren Zügen aus. Mit seinem Versuch, sie in Schwierigkeiten zu bringen, hatte Regin nur sich selbst geschadet. Sie drehte sich um und ging zurück zum Novizenquartier, ausnahmsweise einmal in der festen Gewissheit, dass sie unterwegs keinen Ärger zu erwarten hatte.
»So viel Kraft bei einem so jungen Menschen.« Lord Sarrin schüttelte den Kopf. »Nur wenige Novizen haben je so schnelle Fortschritte gemacht.«
Lorlen nickte. Seine eigenen Kräfte hatten sich ebenfalls früh entwickelt - genau wie die Akkarins. Und man hatte sie beide in die höchsten Positionen der Gilde erhoben. Er konnte das Entsetzen auf den Gesichtern der Höheren Magier erkennen und wusste, dass ihnen der gleiche Gedanke gekommen war.
Normalerweise wären sie hocherfreut gewesen, ein solches Potenzial bei einem Novizen zu entdecken. Aber Sonea war das Hüttenmädchen, und sie hatte erst kürzlich durch den Diebstahl einer Schreibfeder ihren fragwürdigen Charakter unter Beweis gestellt. Obwohl Lorlen zu glauben bereit war, dass dies ein einmaliges Vorkommnis war - vielleicht eine Reaktion auf die Schikanen der anderen Novizen -, würden die übrigen Magier vermutlich nicht so nachsichtig sein.
»Wir sollten uns noch keine allzu großen Hoffnungen machen«, sagte er, um sie zu beruhigen. »Möglich, dass sie sich einfach nur früher entwickelt als die meisten Kinder. Und dass dies bereits der Gipfel ihrer Fähigkeiten ist.«
»Sie ist schon jetzt stärker als die meisten ihrer Lehrer und«, Sarrin deutete auf Rothen, »vielleicht sogar stärker als ihr eigener Mentor.«
»Ist das ein Problem?«, fragte Rothen kühl.
»Nein.« Lorlen lächelte. »So etwas war in der Vergangenheit noch nie ein Problem. Ihr müsst lediglich vorsichtig sein.«
»Werden wir sie noch einmal eine Klasse überspringen lassen müssen?« Jerrik verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.
»Sie ist den anderen Schülern lediglich mit ihren Kräften überlegen«, bemerkte Vinara. »Ihre übrigen Fähigkeiten müssen sich erst noch entwickeln. Sie hat noch eine Menge zu lernen.«
»Wir müssen nur ihre Lehrer warnen«, sagte Lorlen. »Sie sollten Soneas Stärke nicht erproben, ohne die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«
Zu Lorlens Befriedigung nickten sämtliche Magier. Regins Taten hatten mehr enthüllt als sein eigenes grausames Wesen. Er hatte allen bewiesen, wozu Sonea fähig war. Lorlen vermutete, dass das Ausmaß ihrer Stärke selbst Rothen überrascht hatte.
Rothens Aufmerksamkeit galt jedoch Lord Garrel. Regins Mentor hatte während des größten Teils des Gespräches geschwiegen. Lorlen runzelte die Stirn. Sie durften den Ernst des Zwischenfalls nicht vergessen, der sie zusammengeführt hatte.
»Was soll mit Regin geschehen?«, fragte er, und seine Stimme klang scharf genug, um das Gemurmel im Raum zu übertönen.
Balkan lächelte. »Ich denke, der junge Mann hat seine Lektion gelernt. Er wäre ein Narr, wenn er sie jetzt noch provozieren würde.«
Die anderen Magier nickten zustimmend.
»Dennoch sollte er bestraft werden«, beharrte Lorlen.
»Er hat keine Regel gebrochen«, protestierte Garrel. »Balkan hat ihm die Erlaubnis gegeben, seine Strategie mit seinen Klassenkameraden zu üben.«
»Einem anderen Novizen aufzulauern, ist nicht gerade das, was wir unter dem Begriff ›Üben‹ verstehen«, entgegnete Lorlen. »Es ist gefährlich und verantwortungslos.«
»Ich bin der gleichen Meinung«, erklärte Vinara energisch. »Und seine Strafe sollte diesen Umstand widerspiegeln.«