Rothen kicherte. »Jungen können erstaunlich erfinderisch sein, wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie etwas Unrechtes oder Törichtes getan haben.«
»Es war eine recht vergnügliche Geschichte«, stimmte Dorrien ihm zu. »Der Junge hat ein überaus lebhaftes Bild von diesem Sakan-König gezeichnet.«
Rothen lächelte. Die Gedankenrede war zu direkt für solches Geplauder. Es war so viel besser, wenn man von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen konnte. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Sonea Dorrien beobachtete. Als sein Sohn sich kurz darauf abwandte, um in den Speisesaal zu spähen, unterzog sie ihn einer gründlicheren Musterung.
Dorrien folgte Rothens Blick und sah nun seinerseits Sonea an. Sie fasste dies als Einladung auf, sich der Unterhaltung anzuschließen.
»Hattet Ihr eine beschwerliche Reise?«
Dorrien stöhnte. »Schrecklich. Schneestürme in den Bergen und endlose Schneefälle während der restlichen Reise. Aber wenn die Gilde ruft, muss man gehorchen. Selbst wenn das bedeutet, dass man noch den letzten Funken seiner Kraft darauf verwenden muss, einen Pfad durch den Schnee zu brennen und zu verhindern, dass Pferd und Reiter erfrieren.«
»Hättet Ihr nicht bis zum Frühjahr warten können?«
»Das Frühjahr ist die arbeitsreichste Zeit für die Reber-Hirten. Dann werfen die Reber ihre ersten Jungen, und die Bauern arbeiten zu hart und neigen deshalb immer wieder zu Unfällen.« Er schüttelte den Kopf. »Keine günstige Zeit.«
»Der Sommer vielleicht?«
Wieder schüttelte Dorrien den Kopf. »Im Sommer habe ich ständig mit Hitzschlägen oder Sonnenbrand zu tun. Und natürlich mit dem Sommerhusten.«
»Und der Herbst?«
»Erntezeit.«
»Dann ist der Winter also tatsächlich die beste Zeit.« »Irgendjemand kommt immer mit Frostbeulen zu mir, und wenn man sich monatelang nur im Haus aufhält, können daraus leicht gesundheitliche Probleme erwachsen…«
»Es gibt einfach keine günstige Zeit, nicht wahr?«
Er grinste. »Nein.«
Langsam machten sie sich durch den fallenden Schnee auf den Weg zum Magierquartier. Rothen sah, dass Sonea die Augenbrauen in die Höhe zog, als Dorrien zu dem gekachelten Bereich des Treppenhauses hinüberging und dort langsam emporschwebte.
»Bemühst du immer noch die Treppe, Vater?« Dorrien verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hältst du deinen Novizen immer noch Predigten über körperliche Ertüchtigung und Faulheit. Aber ist es nicht genauso wichtig, seine Fähigkeiten in Form zu halten wie den Körper?«
»Es überrascht mich, dass du nach den Anstrengungen deiner Reise überhaupt noch Energie übrig hast, um zu schweben«, erwiderte Rothen.
Dorrien zuckte die Achseln. Rothen besah sich seinen Sohn ein wenig näher und bemerkte Spuren von Erschöpfung in den Zügen des jungen Mannes. Also will er nur angeben, überlegte Rothen. Yaldin hatte einmal bemerkt, dass Dorrien mit seinem Charme einem Reber die Wolle vom Leib locken könne, falls er es sich in den Kopf setzen sollte. Rothen blickte zu Sonea hinüber. Sie betrachtete gebannt Dorriens Füße - wahrscheinlich spürte sie die Energiescheibe unter ihnen.
Oben angekommen trat Dorrien mit einem leisen Seufzer der Erleichterung auf den Flur. Er warf Sonea einen fragenden Blick zu. »Hat mein Vater dir schon beigebracht, wie man schwebt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, dann wird es aber höchste Zeit, dass wir daran etwas ändern.« Dorrien sah Rothen tadelnd an. »Das ist eine Fähigkeit, die bisweilen sehr nützlich sein kann.«
— Um junge Damen zu beeindrucken?
Dorrien ignorierte diese Bemerkung. Rothen lächelte. Kurz darauf traten die drei in die Wärme seines Quartiers, wo sie von Tania begrüßt wurden.
»Wünschen die Herrschaften einen Becher gewärmten Wein?«
»Bitte!«, rief Dorrien.
»Für mich nicht«, sagte Sonea, die in der Tür stehen geblieben war. »Ich muss noch drei Kapitel Medizin lernen.«
Dorrien machte ein Gesicht, als wolle er dagegen protestieren, änderte dann jedoch seine Meinung. »Du stehst kurz vor dem Ende des ersten Jahres, nicht wahr, Sonea?«
»Ja, in zwei Wochen finden die Prüfungen statt.«
»Das bedeutet eine Menge Arbeit.«
Sonea nickte. »Ja, deshalb muss ich mich jetzt verabschieden. Es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen, Lord Dorrien.«
»Die Freude war ganz auf meiner Seite, Sonea.« Dorrien hob sein Glas. »Wir sehen uns dann später oder beim Abendessen.«
Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss. Dorriens Blick verharrte noch einen Moment auf der Stelle, wo sie gestanden hatte.
»Du hast mir nicht erzählt, dass sie kurzes Haar hat.«
»Es war vor einem Jahr noch viel kürzer.«
»Sie wirkt so zerbrechlich.« Dorrien runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich habe etwas… Gröberes erwartet.«
»Du hättest mal sehen sollen, wie dünn sie war, als sie hierher kam.«
»Ah.« Dorrien wurde schlagartig ernst. »Aufgewachsen in den Hüttenvierteln. Kein Wunder, dass sie so klein ist.«
»Klein vielleicht«, stimmte Rothen ihm zu, »aber nicht schwach. Jedenfalls nicht in puncto Magie.« Rothen betrachtete seinen Sohn. »Ich hatte gehofft, dass du sie vielleicht ein wenig ablenken könntest. Seit dem Sommer hat sie nur ihr Studium im Kopf und ihre Probleme mit den anderen Novizen.«
Wieder flackerte in Dorriens Augen Erheiterung auf. »Ich soll sie ablenken? Ich denke, das kann ich tun - falls du nicht glaubst, dass sie einen Landheiler furchtbar langweilig finden wird.«
Die Hauptstraße von Kikostadt schlängelte sich in einer ungebrochenen Spirale um die Insel und endete auf dem Hügel vor dem Palast des Kaisers von Vin. Dannyls Führer zufolge war die Stadt so angelegt worden, um Eindringlinge abzuwehren und ihr Vorankommen zu behindern. Außerdem wurde die Straße an Festtagen für Paraden benutzt, und die Konstruktion stellte sicher, dass alle Bewohner der Stadt einen guten Blick auf die Prozession hatten.
Als Dannyl und Tayend angekommen waren, war das Erntefest in vollem Gang gewesen, und drei Tage später feierten die Menschen noch immer. Die Aufgaben, um die sich zu kümmern Lorlen Errend gebeten hatte, waren unbedeutend, aber zahlreich. Dannyl konnte erst nach dem Fest mit der Arbeit beginnen, daher hatten er und Tayend sich seit ihrer Ankunft im Gildehaus ausgeruht und es nur verlassen, um sich die Darbietungen auf der Straße anzusehen oder Wein und einheimische Delikatessen zu genießen.
Während des größten Teils des Tages wimmelte es auf der Hauptstraße von Festgästen, Sängern, Tänzern und Musikanten, so dass man nur langsam von einem Ort zum anderen kam. Man konnte der Prozession allerdings ausweichen, indem man die allgegenwärtigen steilen Treppen benutzte. Es war eine anstrengende Kletterpartie, wenn man nach oben wollte, und Tayend war vollkommen außer Atem, als sie endlich ihr Ziel erreichten, eine Weinhandlung auf der Hauptstraße, mehrere Treppen oberhalb des Gildehauses gelegen.
Tayend blieb stehen, um sich gegen eins der Gebäude zu lehnen, und bedeutete Dannyl, allein in den Laden zu gehen. »Ich werde mich hier ausruhen«, keuchte er. »Erledigt Ihr die Einkäufe.«
Sofort trat ein Mädchen, das Armbänder aus Blumen feilbot, aus der Prozession heraus, sprach den Gelehrten an und versuchte, ihn zum Kauf ihrer Waren zu bewegen. Die Kühnheit der Vindo-Frauen hatte Tayend, gelinde gesagt, überwältigt, aber ihr Führer hatte ihnen erklärt, dass die Direktheit der Vindo einfach die hiesige Art war, gute Manieren zu zeigen.
Da Tayend nun solchermaßen beschäftigt war, betrat Dannyl die Weinhandlung und suchte sich einige Weine aus. Wohlwissend, dass Tayend sich über etwas Vertrautes freuen würde, entschied er sich für mehrere Flaschen elynischen Weins. Wie die meisten Vindo beherrschte der Kaufmann Dannyls Sprache gut genug, um seinen Preis zu nennen, aber nicht gut genug, um darüber zu verhandeln.
Während der Mann die Flaschen in eine Kiste packte, trat Dannyl an das Fenster des Ladens. Das Blumenmädchen war weitergezogen. Tayend lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, an der Ecke des Gebäudes und beobachtete eine Gruppe männlicher Akrobaten. Plötzlich schnellte eine Hand vor, ergriff Tayends Arm und zog den Gelehrten in den Schatten.