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Dannyl trat einen Schritt näher an das Fenster heran, dann erstarrte er. Ein verkommen aussehender Vindo mit strähnigem Haar drückte Tayend in einer Gasse neben der Weinhandlung an eine Mauer. Die eine Hand hatte er um den Hals des Gelehrten gelegt, in der anderen hielt er ein Messer, mit dem er Tayend bedrohte.

Schneeweiß vor Entsetzen starrte Tayend den Straßenräuber an. Die Lippen des Mannes bewegten sich; wahrscheinlich verlangte er Geld. Dannyl machte einen Schritt auf die Tür zu, dann zwang er sich, stehen zu bleiben. Was würde geschehen, wenn der Straßenräuber sich einem Magier gegenübersah?

Dannyls Gedanken überschlugen sich. Seine Fantasie gaukelte ihm lebhafte, schreckliche Bilder vor: der Straßenräuber, wie er Tayend als Geisel nahm… wie er den Gelehrten bei seiner Flucht hinter sich herzerrte… wie er Tayend erdolchte, sobald Dannyl außer Sicht war.

Wenn Tayend ihm andererseits sein Geld überließ, würde der Mann es einfach nehmen und verschwinden.

Tayends Blick irrte zum Fenster der Weinhandlung hinüber. Dannyl deutete mit dem Kopf auf den Räuber und formte dann mit den Lippen die Worte: »Gib es ihm.« Tayend runzelte die Stirn.

Als der Räuber die Veränderung in der Miene des Gelehrten bemerkte, sah er ebenfalls zu dem Fenster hinüber. Dannyl zog sich fluchend zurück. Hatte der Mann ihn bemerkt? Vorsichtig spähte er noch einmal hinaus.

Tayend zog gerade seinen Beutel mit Münzen aus dem Mantel. Der Räuber packte den Beutel und testete sein Gewicht. Dann verstaute er ihn mit einem triumphierenden Grinsen in seiner Tasche - und bohrte Tayend im nächsten Moment mit einer raschen Bewegung sein Messer in die Seite.

Entsetzt stürzte Dannyl aus dem Laden. Tayend krümmte sich, und aus der Wunde strömte Blut. Als Dannyl sah, dass der Räuber sich anschickte, abermals zuzustechen, griff er nach seiner Magie. Der Räuber bemerkte Dannyl, sein Gesichtsausdruck spiegelte Überraschung und Grauen wider, und dann flog er in hohem Bogen durch die Luft. Mit einem Übelkeit erregenden Knacken prallte er gegen das Gebäude auf der anderen Straßenseite und fiel zu Boden. Die Teilnehmer der Prozession sprangen in alle Richtungen davon.

Einen Moment lang starrte Dannyl den Mann erschrocken an. Eine so heftige Reaktion hatte er nicht beabsichtigt. Dann stöhnte Tayend leise auf, und Dannyl schob den Gedanken an den Straßenräuber beiseite. Mit einem Satz war er bei dem Gelehrten und konnte ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor er aufs Pflaster fiel. Er riss das blutbefleckte Hemd auf und drückte ihm eine Hand auf die Wunde.

Dann schloss er die Augen und richtete seinen Geist nach innen. Das Messer war tief in Tayends Fleisch eingedrungen und hatte Venen, Arterien und Organe verletzt. Dannyl beschwor heilende Magie herauf und konzentrierte sie auf die Wunden. Er leitete Blut um, fügte Gewebe zusammen und ermutigte Tayends Körper, den Schmutz von dem verdreckten Messer des Räubers fortzuspülen. Im Allgemeinen arbeiteten Heiler nur, bis eine Wunde verschlossen war und keine Gefahr mehr von ihr ausging, denn sie mussten ihre Kraft für andere Patienten aufsparen, aber Dannyl ließ seine Energie weiterfließen, bis nur noch Narbengewebe zurückgeblieben war. Dann lauschte er auf den Körper unter seiner Hand, wie man es ihn gelehrt hatte, und überzeugte sich davon, dass alle Organe ihre Funktion wieder aufgenommen hatten.

Allerdings erreichten ihn auch andere Botschaften. Tayends Herz raste. Seine Muskeln waren steif vor Anspannung. Ein Gefühl von Angst berührte Dannyls Geist. Er runzelte die Stirn. Eine gewisse Furcht war zu erwarten gewesen, aber bei diesem Gefühl ging es um etwas anderes als um die Verletzungen selbst. Seine Sinne verließen die rein körperliche Ebene, und plötzlich ergossen sich Tayends Gedanken in Dannyls Geist.

Vielleicht wird er es nicht sehen… nein, es ist zu spät! Wahrscheinlich hat er es bereits gesehen. Jetzt wird er mich verachten. Kyralische Magier sind so. Sie halten uns für pervers. Widernatürlich. Aber nein! Er wird es verstehen. Er sagt, er wisse, wie das ist. Aber er selbst ist keiner von uns… oder vielleicht doch? Möglich, dass er seine Neigungen verbirgt. Nein, das kann nicht sein. Er ist ein kyralischer Magier. Ihre Heiler hätten es bemerkt und ihn hinausgeworfen

Überrascht löste sich Dannyl aus Tayends Geist, aber er hielt die Augen geschlossen und ließ die Hand auf dem Körper des Gelehrten liegen. Deshalb lehnte Tayend es also ab, mit Magie geheilt zu werden. Er hatte Angst, Dannyl könnte spüren, dass… dass er wie Dem Agerralin war. Tayend begehrte Männer.

Erinnerungen an die letzten Monate blitzten vor Dannyls innerem Auge auf. Er dachte an den Tag nach dem Angriff der Fischegel. Tayend hatte zwei Egel entdeckt, die sich umeinander und um ein Seil geschlungen hatten. Ein Matrose hatte Tayends Interesse bemerkt.

»Sie paaren sich«, hatte der Mann gesagt.

»Welcher von ihnen ist das Männchen und welcher das Weibchen?«, hatte Tayend wissen wollen.

»Kein Junge, kein Mädchen. Beide gleich.«

Tayend hatte die Brauen hochgezogen und den Seemann angesehen. »Wirklich?«

Der Mann war weggegangen, um einen Topf mit Siyo zu holen. Tayend hatte sich die Egel genauer angesehen.

»Was für ein Glück für euch«, hatte er gesagt.

Und Tayend hatte sich während ihres gesamten Aufenthalts in Lonmar ausgesprochen unwohl gefühlt. Dannyl wusste, dass ihr Erlebnis auf dem Richtplatz Tayend schockiert hatte, aber er hatte angenommen, dass der Gelehrte den Zwischenfall nach einer Weile vergessen und den Rest des »Abenteuers« genießen würde. Aber Tayend war die ganze Zeit über still und ängstlich gewesen.

Und jetzt fürchtet er natürlich meine Reaktion. Wir Kyralier sind nicht gerade für unsere Toleranz gegenüber Männern wie Tayend bekannt. Wer wüsste das besser als ich? Kein Wunder, dass er Angst davor hatte, geheilt zu werden. Er glaubt, dass Heiler es spüren können, wenn ein Mann andere Männer begehrt, geradeso als sei das eine Krankheit.

Dannyl runzelte die Stirn. Was sollte er jetzt tun? Sollte er Tayend wissen lassen, dass er sein Geheimnis entdeckt hatte, oder war es besser, vorzugeben, er habe nichts bemerkt?

Ich weiß es nicht. Ich brauche mehr Zeit zum Nachdenken. Fürs Erste… ja, ich werde so tun, als wüsste ich es nicht.

Als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass Tayend ihn anstarrte. Lächelnd zog Dannyl die Hand zurück. »Seid Ihr…?«

»Mylord?«

Erst jetzt bemerkte Dannyl, dass sich eine Menge um sie herum versammelt hatte. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war ein Wachposten. Weitere Wachleute befragten die Zeugen des Vorfalls. Einer untersuchte den am Boden liegenden Straßenräuber, dann zog er dem Mann Tayends Geldbeutel aus der Hand.

Der Wachposten, der vor Dannyl stand, schob mit der Spitze seiner Sandale das blutbefleckte Messer zur Seite, das neben Tayends Füßen auf dem Boden lag. »Keine Gerichtsverhandlung«, sagte er und sah Dannyl nervös an. »Die Leute sagen, Ihr habt bösen Mann getötet. Ihr seid im Recht.«

Dannyl sah, dass die Menschen um ihn herum den Straßenräuber anstarrten. Er war tot. Ein Schauer überlief Dannyl. Er hatte noch nie zuvor getötet. Das war jedoch etwas, worüber er später würde nachdenken müssen. Als der Wachmann sich entfernte, wandte sich Dannyl zu Tayend um und warf dem Gelehrten einen fragenden Blick zu.

»Geht es Euch wieder besser?«

Tayend nickte hastig. »Wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass ich immer noch am ganzen Leib zittere.«

Der Weinhändler, der in der Tür seines Ladens stand, wirkte verunsichert und ängstlich. Ein jüngerer Mann stand mit der Kiste, in der sich Dannyls Käufe befanden, an seiner Seite. »Dann kommt. Holen wir uns unseren Wein. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich bin durstiger als je zuvor.«