Und dahinter lagen fremde Länder, von deren Existenz sie erst seit kurzem wusste.
»Bist du jemals außerhalb von Kyralia gewesen?«
»Nein.« Dorrien zuckte die Achseln. »Eines Tages werde ich vielleicht auf Reisen gehen. Bisher hatte ich nie einen guten Grund dazu, und ich bleibe meinem Dorf nicht gern allzu lange fern.«
»Was ist mit Sachaka? Du lebst doch ganz in der Nähe eines der Pässe, nicht wahr? Warst du nie in Versuchung, einmal einen Abstecher dorthin zu machen?«
Er schüttelte den Kopf. »Einige der Hirten waren in Sachaka, wahrscheinlich um festzustellen, ob es sinnvoll wäre, ihr Vieh dort grasen zu lassen. Auf der anderen Seite gibt es keine Städte, nicht einmal, wenn man mehrere Tage reitet. Nur Ödland.«
»Das Ödland, das durch den Krieg entstanden ist?«
»Ja.« Er nickte. »Wie ich sehe, hast du im Geschichtsunterricht gut aufgepasst.«
Sie zuckte die Achseln. »Das war das einzig Interessante bisher. Alles andere - die Allianz und die Bildung der Gilde - ist entsetzlich langweilig.«
Er lachte, dann löste er sich vom Geländer. Langsam gingen sie zurück zum Treppenhaus. Dorrien blieb an der obersten Stufe stehen und legte Sonea die Hand auf den Arm.
»Also, hat dir meine Überraschung gefallen?«
Sie nickte. »Ja.«
»Besser als lernen?«
»Natürlich.«
Er grinste und trat zur Seite. Als er sich plötzlich in die Tiefe fallen ließ, schnappte Sonea nach Luft. Einen Moment später stieg er wieder empor - auf einer Scheibe aus magischer Energie schwebend. Sie presste sich eine Hand auf die Brust.
»Du hast mich fast zu Tode erschreckt, Dorrien!«, tadelte sie ihn.
Er lachte. »Willst du die Kunst des Schwebens erlernen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Natürlich willst du das.«
»Ich muss für morgen noch drei Kapitel lesen.«
Seine Augen blitzten. »Das kannst du heute Abend tun. Möchtest du es lieber lernen, wenn andere Novizen zusehen? Wenn ich es dir jetzt beibringe, wird niemand außer mir die Fehler sehen, die du machst.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Er hatte nicht ganz Unrecht…
»Nur zu«, drängte er sie. »Wenn du dich weigerst, lasse ich dich unten nicht durch die Tür.«
Sonea verdrehte die Augen. »Also gut.«
Das Gildehaus in Kikostadt stand an einem steilen Abhang. Von zahlreichen Balkonen aus hatten Besucher einen Blick auf das Meer, die Strände und die lange, gewundene Straße - auf der die Menschen noch immer feierten. Rhythmische Musik drang an Dannyls Ohren. In der einen Hand hielt er ein Glas mit elynischem Wein, in der anderen die Flasche. Er nahm einen Schluck, dann löste er sich von der Brüstung des Balkons, ging zu einem Sessel hinüber, setzte sich, streckte die Beine aus und ließ seine Gedanken schweifen.
Wie immer drehten sie sich um Tayend.
Seit dem Überfall war der Gelehrte in Dannyls Gegenwart verlegen und nervös gewesen. Obwohl Dannyl versucht hatte, sich so zu benehmen wie immer, hatte er Tayend offensichtlich nicht davon überzeugen können, dass sein Geheimnis unentdeckt geblieben war. Jetzt hatte er Angst, dass Dannyl seine Freundschaft zurückweisen würde. Diese Angst war durchaus nicht unvernünftig. Obwohl ein Mann in Kyralia, anders als in Lonmar, wegen dieses »inakzeptablen« Verhaltens nicht hingerichtet wurde, galt es dort dennoch als falsch und unnatürlich. Als damals die Gerüchte über ihn in Umlauf gekommen waren, hatte Dannyl gehört, dass man es ihm, falls sich diese Dinge als wahr erweisen sollten, vielleicht nicht gestatten würde, seinen Abschluss zu machen.
In all den Jahren seither hatte er alles darangesetzt, nicht abermals einen solchen Verdacht auf sich zu lenken. In den vergangenen Tagen war ihm ein beunruhigender Gedanke gekommen: Wenn Tayends Vorlieben in Elyne ein offenes Geheimnis waren, ließ es sich nicht vermeiden, dass bei Hof auch über ihn, Dannyl, Spekulationen angestellt wurden. Das Gerücht aus seiner Vergangenheit würde dem Tratsch zusätzliche Nahrung geben, und während solches Gerede in Elyne nicht weiter gefährlich sein mochte, konnte er sich vorstellen, was geschah, wenn diese Dinge die Gilde erreichten…
Dannyl schüttelte den Kopf. Nachdem er mehrere Monate mit Tayend gereist war, ließ sich der Schaden, den sein Ruf womöglich erlitten hatte, ohnehin nicht mehr beheben. Um seines Rufes willen sollte er direkt nach seiner Rückkehr nach Elyne jeden Kontakt zu Tayend abbrechen. Er sollte völlig zweifelsfrei klar machen, wie sehr es ihn entsetzt hatte zu erfahren, dass sein Assistent ein »Knabe« war, wie die Elyner es ausdrückten.
Tayend wird es verstehen, sagte eine Stimme in seinen Gedanken. Oder irrst du dich da?, sagte eine andere. Was ist, wenn er wütend wird und Akkarin von Lorlens Nachforschungen erzählt?
Nein, antwortete die erste Stimme. Das würde sein Ansehen als Gelehrter zerstören. Und vielleicht kannst du diese Freundschaft im Guten beenden, ohne seine Gefühle zu verletzen.
Dannyl blickte finster in sein Weinglas. Warum passierte ihm so etwas immer wieder? Tayend war ein angenehmer Gefährte, ein Mann, den er mochte und schätzte. Der Gedanke, ihre Freundschaft aus Angst vor etwaigen Gerüchten zu beenden, beschämte ihn und machte ihn gleichzeitig wütend. Gewiss konnte er sich auch weiterhin der Gesellschaft des Gelehrten erfreuen, ohne seinen Ruf zu gefährden.
Sollen sie doch reden, dachte er. Ich werde nicht zulassen, dass man mir eine weitere vielversprechende Freundschaft zerstört.
Aber wenn die Gilde davon erfuhr und die Höheren Magier so entrüstet waren, dass sie seine sofortige Rückkehr befahlen…
»Ihr habt doch nicht etwa vor, diese Flasche ganz allein zu trinken, oder?«
Erschrocken blickte Dannyl auf. Tayend stand in der Tür zum Balkon.
»Natürlich nicht«, erwiderte er.
»Gut«, sagte Tayend. »Sonst käme ich mir nämlich ziemlich dumm vor, dass ich mit diesem Ding hier herumlaufe.« Er hielt ein leeres Glas in die Höhe.
Während Dannyl den Wein einschenkte, beobachtete ihn Tayend, sah dann aber schnell beiseite, als er Dannyls Blick begegnete. Schließlich trat der Gelehrte an das Geländer und schaute aufs Meer hinaus.
Es wird Zeit, befand Dannyl. Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen - und dass er meine Freundschaft deswegen nicht verlieren wird. Er holte tief Luft.
»Wir müssen reden«, sagte Tayend plötzlich.
»Ja«, pflichtete Dannyl ihm bei. Er wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. »Ich denke, ich weiß, warum Ihr Euch nicht von mir heilen lassen wolltet.«
Tayend zuckte zusammen. »Ihr habt einmal zu mir gesagt, dass Ihr begreifen könntet, wie schwierig es für… für Männer wie mich ist.«
»Aber ich weiß von Euch, dass Männer wie Ihr in Elyne akzeptiert werden.«
»Das ist einerseits richtig, andererseits nicht.« Tayend leerte sein Glas, dann wandte er sich wieder Dannyl zu. »Zumindest enteignen wir die Leute nicht, wie ihr es in Kyralia tut«, fügte er anklagend hinzu.
Dannyl schnitt eine Grimasse. »Das Volk von Kyralia ist nicht gerade für seine Toleranz bekannt. Ihr wisst, dass ich das am eigenen Leib erfahren habe. Wir sind jedoch nicht alle so voreingenommen.«
Zwischen Tayends Brauen erschien eine Falte. »Früher einmal wollte ich selbst Magier werden. Einer meiner Vettern hat mich geprüft und Potenzial gefunden. Man wollte mich in die Gilde schicken.« Tayends Blick trübte sich, und Dannyl sah Sehnsucht in den Augen des Gelehrten aufschimmern, aber dann schüttelte er den Kopf und seufzte. »Später habe ich von Euch gehört, und mir ist klar geworden, dass es keine Rolle spielte, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen oder nicht. Es war offenkundig, dass ich niemals Magier werden konnte. Die Gilde hätte herausgefunden, was ich bin, und mich gleich wieder heimgeschickt.«
Ein seltsamer Ärger stieg in Dannyl auf. Mit seinem beeindruckenden Gedächtnis und seinem scharfen Verstand hätte Tayend einen großartigen Magier abgegeben. »Wie habt Ihr Eure Familie davon abhalten können, Euch in die Gilde zu schicken?«