»Ich habe meinem Vater erklärt, dass ich es nicht wolle.« Tayend zuckte die Achseln. »Damals hat er noch keinen Verdacht geschöpft. Als ich später Freundschaft mit gewissen Leuten schloss, glaubte er, meine wahren Beweggründe zu kennen. Er denkt, ich hätte diese Chance ausgeschlagen, weil ich Dinge tun wollte, die die Gilde nicht erlaubt hätte. Er hat nie begriffen, dass es mir nicht gelungen wäre, meine wahre Natur zu verbergen.« Tayend blickte auf sein leeres Glas hinab, dann griff er nach der Flasche, schenkte sich nach und leerte auch das zweite Glas in einem Zug.
»Nun«, fuhr er fort, »falls es Euch ein Trost ist, ich habe immer gewusst, dass die Gerüchte über Euch nicht wahr sein konnten.«
Dannyl zuckte zusammen. »Warum sagt Ihr das?«
»Nun, wenn Ihr so wärt wie ich und nicht gegen Eure Gefühle ankämpfen könntet, würden die Heiler es herausfinden, nicht wahr?«
»Nicht unbedingt.«
Die Augen des Gelehrten weiteten sich. »Wollt Ihr damit andeuten…?«
»Sie können körperliche Dinge wahrnehmen. Mehr nicht. Wenn es etwas im Körper eines Mannes gibt, das in ihm das Verlangen nach anderen Männern weckt, so haben die Heiler es bisher nicht gefunden.«
»Aber man hat mir gesagt… Man hat mir gesagt, Heiler könnten es spüren, wenn mit jemandem etwas nicht stimmt.«
»Das ist wahr.«
»Dann ist dies also… es ist keine Fehlfunktion des Körpers oder…« Tayend runzelte die Stirn und sah Dannyl an. »Woher wusstet Ihr dann über mich Bescheid?«
Dannyl lächelte. »Eure Gedanken haben es mir so laut entgegengeschrien, dass ich es kaum ignorieren konnte. Menschen mit magischem Potenzial, die nicht lernen, ihre Magie zu benutzen, senden häufig sehr starke Gedankenimpulse aus.«
»Tatsächlich?« Tayend errötete und wandte den Blick ab. »Wie viel habt Ihr… gelesen?«
»Nicht viel«, versicherte ihm Dannyl. »Im Wesentlichen Eure Ängste. Ich habe nicht weiter gelauscht. Das gehört sich nicht.«
Tayend nickte, dann weiteten sich seine Augen plötzlich. »Ihr meint, ich hätte der Gilde beitreten können?« Er runzelte die Stirn. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob es mir wirklich gefallen hätte.« Tayend setzte sich in den zweiten Sessel. »Darf ich Euch eine persönliche Frage stellen?«
»Ja.«
»Was ist wirklich zwischen Euch und diesem Novizen vorgefallen?«
Dannyl seufzte. »Nichts.« Als er zu Tayend hinüberblickte, stellte er fest, dass der Gelehrte ihn erwartungsvoll ansah. »Also schön. Die ganze Geschichte. Ich war nicht besonders beliebt. Neue Novizen suchen häufig die Hilfe Älterer, die ihnen bei ihrem Studium helfen, aber ich hatte Mühe, jemanden zu finden, der dazu bereit war. Mir waren Geschichten über einen der älteren Jungen zu Ohren gekommen, und ich wusste, dass die anderen Novizen ihn aufgrund dieser Geschichten mieden, aber er war der Beste in seinem Jahrgang, und ich beschloss, diese Gerüchte zu ignorieren. Als er sich bereit fand, mir zu helfen, war ich sehr zufrieden mit mir.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es gab einen Novizen in meiner Klasse, der mich gehasst hat.«
»Lord Fergun?«
»Ja. Wir hatten uns seit Beginn des Studiums Beleidigungen an den Kopf geworfen und einander Streiche gespielt. Fergun hatte natürlich ebenfalls die Geschichten über den älteren Novizen gehört, und er hat diese Gelegenheit genutzt, um neue Gerüchte in Umlauf zu bringen. Kurze Zeit später wurde ich vor die Höheren Magier zitiert.«
»Wie ist es dann weitergegangen?«
»Ich habe die Gerüchte selbstverständlich bestritten. Um dem Gerede ein Ende zu machen, befahl man mir, mich von dem Jungen fern zu halten. Das war natürlich genau die Bestätigung, die die Novizen brauchten.«
»Was ist aus diesem Jungen geworden? Entsprachen die Gerüchte über ihn der Wahrheit?«
»Er hat seinen Abschluss gemacht und ist in seine Heimat zurückgekehrt. Mehr kann ich Euch nicht sagen.« Als Dannyl Neugier in Tayends Augen aufblitzen sah, fügte er hinzu: »Nein, ich werde Euch seinen Namen nicht verraten.«
Tayend lehnte sich enttäuscht in seinen Sessel zurück. »Und was ist dann passiert?«
Dannyl zuckte die Achseln. »Ich habe mein Studium fortgesetzt und dafür gesorgt, nicht noch einmal Verdacht zu erregen. Schließlich haben alle die Sache vergessen, bis auf Fergun - und den elynischen Hof, wie es aussieht.«
Tayend fand diese Bemerkung offensichtlich nicht komisch. »Und was werdet Ihr jetzt tun?«
Dannyl schenkte sich noch einmal nach. »Da die Gräber der Weißen Tränen während der Feierlichkeiten geschlossen sind, habe ich nicht viel anderes zu tun, als zu trinken und mich auszuruhen.«
»Und dann?«
»Ich nehme an, wir werden die Gräber besuchen.«
»Und dann?«
»Das kommt darauf an, was wir dort finden. So oder so werden wir nach Elyne zurückkehren.«
»Das meinte ich nicht.« Tayend sah Dannyl eindringlich an. »Wenn allein die Verbindung zu einem Novizen, dessen Neigungen nicht einmal bekannt waren, schon so viele Schwierigkeiten gemacht hat, dürfte die Freundschaft mit einem Mann, der erwiesenermaßen ein ›Knabe‹ ist, viel, viel schlimmer sein. Ihr habt gesagt, dass Ihr es unbedingt vermeiden müsst, Verdacht zu erregen. Ich kann Euch von der Bibliothek aus nach wie vor behilflich sein, aber ich werde Euch die Ergebnisse meiner Nachforschungen in Zukunft durch einen Boten schicken.«
Dannyl spürte, wie sich etwas in ihm schmerzhaft zusammenzog. Er war nicht auf die Idee gekommen, dass Tayend einen solchen Vorschlag machen könnte. Bei der Erinnerung daran, dass er noch kurz zuvor selbst darüber nachgedacht hatte, ihre Freundschaft zu beenden, durchzuckten ihn Gewissensbisse.
»Oh nein«, erwiderte er. »So leicht werdet Ihr mich nicht los.«
»Aber Ihr könntet aufs Neue Verdacht erregen, wenn Ihr eine Freundschaft mit jemandem pflegt, der ein…«
»… der ein Gelehrter der Großen Bibliothek ist«, beendete Dannyl den Satz. »Ein nützlicher und wertvoller Assistent. Und ein Freund. Wenn die Klatschbasen reden wollen, dann haben sie inzwischen bereits damit angefangen. Wenn sie erfahren, dass wir heimlich miteinander in Verbindung stehen, werden sie nur umso mehr zu reden haben.«
Überrascht öffnete Tayend den Mund, um etwas zu sagen, aber dann schüttelte er den Kopf. Er hob sein Glas und prostete Dannyl zu. »Also dann, auf die Freundschaft.«
Dannyl griff lächelnd nach seinem eigenen Glas und stieß mit dem Gelehrten an.
Auf der Suche nach einem bestimmten Band strich Rothen mit dem Finger über die Bücherregale. Als die Tür zur Magierbibliothek geöffnet wurde, blieb er stehen. Dorrien war zusammen mit Sonea in den Raum getreten. Er runzelte die Stirn. Sonea hatte ihn gebeten, ihr einige Bücher aus der Bibliothek zu besorgen, und nun war sie selbst hergekommen.
Lord Jullen erklärte ihr mit ungehaltener Miene, dass sie ihren Bücherkoffer nicht mitnehmen dürfe; sie könne ihn in einem der Aufbewahrungsfächer abstellen. Sie zog einige Bogen Papier heraus und ließ den Bücherkoffer zurück.
Rothen beschloss, sich zuerst auf die Suche nach den Büchern zu machen, derentwegen er hergekommen war, bevor er die beiden ansprach. Als er endlich das erste Buch auf seiner Liste fand - mehrere Regale von dem Platz entfernt, an den es gehört hätte -, verfluchte er im Stillen den Magier, der es falsch eingeordnet hatte.
Er bemerkte nur am Rande, dass jemand an Lord Jullen herangetreten war und ihn um Hilfe bat. Dagegen entging es ihm keineswegs, dass Dorrien im nächsten Gang ein freundliches Gespräch mit Lord Galin begonnen hatte. Plötzlich erklang lautes Husten hinter ihm, und als er sich umdrehte, sah er Lord Garrel, der sich ein Nasentuch an den Mund hielt. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von einem lauten Ausruf abgelenkt.
»Regin!«, blaffte Galin und eilte mit langen Schritten durch den Gang. Zwischen den Regalen hindurch konnte Rothen Regin beobachten, der neben Jullens Schreibtisch stand.