Die beiden Magier blieben unerträglich lange Zeit reglos und schweigend voreinander stehen. Dann holte Akkarin plötzlich tief Luft, öffnete die Augen und ließ die Hände sinken.
Rothen schwankte leicht, und Sonea trat vorsichtig einen Schritt vor und griff nach dem Arm ihres Mentors.
»Mir geht es gut«, sagte er schwach. »Es ist alles in Ordnung.« Er rieb sich die Schläfen, dann drückte er beruhigend Soneas Hand.
»Jetzt du, Sonea.«
Eine Woge kalten Entsetzens durchströmte ihren Körper. Rothens Finger klammerten sich fester um ihre Hand.
»Nein!«, protestierte er heiser und legte schützend einen Arm um ihre Schultern. »Ihr wisst nun alles. Lasst sie in Ruhe.«
»Das kann ich nicht.«
»Aber Ihr habt alles gesehen«, beteuerte Rothen. »Sie ist nur ein…«
»Ein Kind?« Akkarin zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ein Mädchen? Ich bitte Euch, Rothen. Ihr wisst, dass diese Prozedur ihr keinen Schaden zufügen wird.«
Rothen schluckte, dann drehte er sich langsam zu ihr um und sah ihr in die Augen. »Er weiß alles, Sonea. Du brauchst nichts vor ihm zu verbergen. Erlaube ihm, sich selbst davon zu überzeugen, wenn es denn sein muss. Es wird nicht wehtun.«
Auch wenn seine Augen feucht waren, sein Blick war ruhig und entschlossen. Er drückte noch einmal kurz ihre Hände, dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. Das schreckliche Gefühl, verraten worden zu sein, stieg in ihr auf.
— Vertrau mir. Wir müssen es zulassen. Das ist alles, was wir im Moment tun können.
Sie hörte, dass Akkarin näher kam. Mit rasendem Herzen wandte sie sich zu ihm um. Die schwarze Robe raschelte bei jeder Bewegung. Als sie zurückzuckte, spürte sie Rothens Hände auf ihren Schultern.
Akkarin stand jetzt direkt vor ihr. Kühle Finger strichen über ihr Gesicht, und sie schauderte. Dann legte er ihr die Hände fest auf die Schläfen.
Eine Aura berührte ihren Geist, aber sie war ohne jede Persönlichkeit. Sonea spürte weder Gedanken noch Gefühle. Vielleicht hatte er keine Gefühle. Diese Vorstellung war keineswegs beruhigend.
Gleich darauf blitzte ein Bild in ihren Gedanken auf. Sie zuckte jäh zusammen, denn sie hatte erwartet, dass er auf die Barrieren in ihrem Geist stoßen würde. Aber irgendwie hatte er sie umgangen.
Immer wieder blitzte dasselbe Bild in ihren Gedanken auf. Es zeigte den unterirdischen Raum unter Akkarins Residenz, und zwar von der Tür aus. Eine Erinnerung an die Szene, die sie in jener Nacht beobachtet hatte, stieg in ihr auf.
Irgendetwas griff nach dieser Erinnerung und teilte sie in Einzelheiten auf. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen den Eindringling in ihren Gedanken, doch vergeblich. Akkarin hatte jetzt die Kontrolle über ihren Geist. Bei dieser Entdeckung stieg Panik in ihr auf. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, die Erinnerung an jene Nacht mit anderen Gedanken und Bildern zu überlagern.
Lass das.
Ein wütender Unterton schwang in den Worten mit. Triumphierend begriff sie, dass sie einen Weg gefunden hatte, Akkarin zu behindern. Ihre Angst verstärkte ihre Entschlossenheit. Sie beschwor Unterrichtsstunden herauf, Listen von Tatsachen, Bilder von Arbeiten, die sie geleistet hatte. Sie bombardierte ihn mit Abbildungen aus Lehrbüchern und unsinnigen Gedichten, die sie in der Bibliothek entdeckt hatte. Dann ließ sie Erinnerungen an die Hüttenviertel folgen, unwichtige, alltägliche Dinge aus ihrem früheren Leben.
Das geistige Bild eines Sturms erschien - ein Trichter von Bildern, die Akkarin in ihrem Zentrum gefangen hielten. Sie wusste nicht, ob das Bild real war oder etwas, das ihre Fantasie ersonnen hatte…
Schmerz! Messer, die sich in ihren Schädel rammten. Ein Schrei drang an ihre Ohren. Als ihr klar wurde, dass sie selbst ihn ausgestoßen hatte, öffnete sie die Augen, und ihr Bewusstsein schwankte zwischen der äußeren und der inneren Welt hin und her. Hände krampften sich um ihre Schultern. Irgendwo über ihr erklang eine Stimme.
»Hör auf, gegen mich zu kämpfen«, befahl die Stimme.
Wieder spürte sie Akkarins Finger, die sich auf ihre Schläfen pressten. Ruckartig wurde sie in das Reich ihres Geistes zurückversetzt. Orientierungslos und entsetzt über den Schmerz versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Akkarins Aura wandte sich erneut der Aufgabe zu, die Erinnerungen auszugraben, nach denen er suchte. Unbarmherzig beschwor er Bild um Bild herauf. Diesmal erlebte sie die Augenblicke auf dem Nordplatz von neuem. Wieder warf sie den Stein und floh vor dem Feuer der Magier. Räume und Flure der Hüttenviertel huschten an ihr vorbei. Der Tag, an dem sie Rothens suchenden Geist gespürt und instinktiv ihre Aura verborgen hatte. Cery, Harrin und seine Bande. Faren, der Dieb. Senfel, der Magier der Diebe.
Dann schlich sie sich durch den Wald auf dem Gelände der Gilde. Die Erinnerungen wurden schärfer. Einmal mehr kletterte sie über die Mauer des Heilerquartiers und beobachtete die Novizen. Wieder spürte sie die Vibration, die die Arena umgab. Sie spähte durch die Fenster der Universität. Ihr Weg führte sie abermals um die Gilde herum zu den Novizenquartieren und durch den Wald dahinter. Dann, nachdem Cery fortgegangen war, um die Bücher zu stehlen, schlich sie zu dem seltsamen, grauen, zweistöckigen Gebäude. Der Diener kam und zwang sie, sich hinter dem niedrigen Gebüsch zu verstecken. Sie bemerkte das Licht, das durch die Luftschächte fiel, ging in die Hocke und spähte hindurch.
Ein leises Aufflackern von Ärger berührte ihre Sinne. Ja, dachte sie, ich wäre auch wütend, wenn man meine Geheimnisse so leicht entdecken könnte. Sie sah, wie der blutbefleckte Mann seine Kleider ablegte, sich wusch und davonging. Als er kurz darauf in eine schwarze Robe gewandet zurückkam, sprach der Mann mit seinem Diener. »Der Kampf hat mich geschwächt. Ich brauche deine Kraft.« Der Mann nahm ein kunstvoll geschmiedetes Messer heraus, ritzte den Arm des Dieners auf und legte dann die Hand auf die Wunde. Einmal mehr spürte sie die eigenartige Magie.
Die Erinnerung brach jäh ab, und sie konnte nichts mehr von dem Geist wahrnehmen, der hinter ihrem gelauert hatte. Was mochte Akkarin denken?, fragte sie sich.
Hast du irgendjemandem außer Lorlen und Rothen Zugang zu diesem Wissen gegeben?
Nein, dachte sie.
Sie entspannte sich, denn sie glaubte, dies sei alles, was ihn interessiere, aber dann folgte ein unbarmherziges Verhör, in dem Akkarin ihr Gedächtnis weiter erforschte. Er erkundete Teile ihres Lebens, angefangen von ihrer Kindheit bis zu ihrem Unterricht an der Universität. Er drang auch in ihre Gefühle ein, entdeckte ihre Zuneigung zu Rothen, ihre unverbrüchliche Treue Cery und den Hüttenleuten gegenüber und schließlich sogar die neuen Gefühle, die sie für Dorrien hegte.
Plötzlich loderte Zorn in ihr auf, Zorn, der sich gegen Akkarin richtete, weil er ihr das antat. Er wollte wissen, wie sie dazu stand, dass er schwarze Magie praktizierte, und ihr Geist reagierte mit Missbilligung und Angst. Würde sie ihn bloßstellen, wenn sie konnte? Ja! Aber nur, wenn sie wusste, dass Rothen und den anderen deswegen keine Gefahr drohte.
Dann zog er sich aus ihren Gedanken zurück, und der Druck auf ihren Schläfen ließ nach. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Akkarin hatte ihr den Rücken zugekehrt und ging langsam im Raum auf und ab. Rothen legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern.
»Ihr beide würdet mich bloßstellen, wenn ihr könntet«, sagte Akkarin. Er schwieg eine Weile, dann drehte er sich wieder zu ihnen um. »Ich werde verlangen, dass man mich zu Soneas Mentor bestimmt. Ihre Fähigkeiten sind weit fortgeschritten, und wie Lorlen bereits festgestellt hat, ist ihre Stärke wirklich ungewöhnlich. Niemand wird meine Wahl in Frage stellen.«
»Nein!«, stieß Rothen hervor.
»O doch«, entgegnete Akkarin. »Sie wird mir Euer Schweigen garantieren. Solange sie mir gehört, werdet Ihr niemals irgendjemanden wissen lassen, dass ich schwarze Magie praktiziere.« Er blickte zu Sonea hinüber. »Umgekehrt wird Rothens Wohlergehen mir deinen Gehorsam sichern.«