Während sie Jerrik beobachtete, schüttelte sie den Kopf. Stundenpläne und Prüfungen erschienen ihr mit einem Mal so unwichtig. Wenn Jerrik gewusst hätte, was wirklich geschehen war, würde ihn dieses Jonglieren mit verschiedenen Papieren und Kurszeiten nicht mehr im Geringsten interessieren. Und er würde Akkarin auch nicht mehr mit Respekt begegnen.
Aber er wusste es nicht, und sie konnte es ihm nicht erzählen.
Jerrik erhob sich abrupt. Er ging zu einem Schrank hinüber und nahm drei Schatullen heraus: eine grüne, eine rote und eine purpurfarbene. Dann trat er zu den hohen, schmalen Türen, die eine Wand des Raums bedeckten, und strich mit der Hand über den Griff der ersten Tür. Ein leises Klicken war zu hören, dann öffnete sich die Tür; dahinter kamen etliche Regale zum Vorschein.
Nachdem er mit dem Finger über das erste Regal gestrichen hatte, hielt er inne und zog einen Ordner heraus. Er legte ihn auf den Tisch, und Sonea sah, dass ihr Name in säuberlicher Handschrift auf den Deckel geschrieben war. Neugierig beobachtete sie, wie Jerrik den Ordner öffnete und mehrere Seiten durchlas. Was steht da drin?, fragte sie sich. Bemerkungen der Lehrer wahrscheinlich. Und ein Bericht über die Schreibfeder, die ich angeblich gestohlen habe.
Jerrik öffnete die drei Schatullen. Darin lagen weitere Papiere mit Zeitplänen und den Namen von Lehrern. Eines dieser Papiere wählte er jetzt aus, dann nahm er ein sauberes Blatt von seinem Schreibtisch und machte sich daran, einen weiteren Plan zu zeichnen. Minutenlang waren im Raum nur das Kratzen von Jerriks Feder und seine regelmäßigen Atemzüge zu hören.
»Das ist ein großes Glück für dich, Sonea«, bemerkte er, ohne aufzublicken.
Sonea verkniff sich ein plötzliches, bitteres Lachen. »Ja, Rektor«, murmelte sie.
Stirnrunzelnd sah er zu ihr auf, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Arbeit zu. Als er mit dem Zeitplan fertig war, griff er nach einem weiteren Blatt Papier und machte eine Abschrift davon.
»Du wirst im nächsten Jahr nicht viel Zeit für dich haben«, erklärte er ihr. »Lord Yikmo zieht es vor, tagsüber zu unterrichten, daher wirst du stattdessen einige private Stunden in Alchemie nehmen müssen. Die Freitage bleiben dir zum Lernen. Wenn du dir die Arbeit gut einteilst, kannst du es vielleicht einrichten, dir die Freitagvormittage für eigene Unternehmungen freizuhalten.« Er hielt inne und musterte sein Werk mit einem traurigen Kopfschütteln. »Wenn du Lord Yikmo von deinen Fortschritten überzeugen kannst, wirst du nach einer Weile vielleicht auch wieder einige freie Nachmittage haben.«
Sonea antwortete nicht. Welchen Nutzen sollte freie Zeit jetzt noch für sie haben? Akkarin hatte ihr verboten, mit Rothen zu sprechen, und sie hatte keine Freunde unter den Novizen. Sie hatte Angst vor den nächsten Wochen. Wenn es bis zum nächsten Jahr keinen Unterricht gab, womit sollte sie sich dann beschäftigen? Sollte sie in ihrem neuen Zimmer in Akkarins Residenz bleiben? Sie schauderte. Nein, sie würde so oft wie möglich versuchen, gerade nicht dort zu sein.
Wenn er es ihr gestattete. Was, wenn er sie in seiner Nähe haben wollte? Was, wenn er mich bei seiner schmutzigen Arbeit benutzen will? Sie schob den Gedanken beiseite, dann hielt sie inne. Wie grauenhaft diese Möglichkeit auch sein mochte, sie musste sie in Erwägung ziehen. Er konnte sie zu allem zwingen, indem er ihr drohte, Rothen etwas anzutun. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Alles…
Ihre Hände schmerzten. Als sie hinabblickte, öffnete sie ihre verkrampften Fäuste. Vier halbmondförmige Abdrücke zeichneten sich in den Innenflächen ihrer Hände ab. Sie rieb sie an ihrer Robe und nahm sich vor, sich die Fingernägel zu schneiden, sobald sie in ihr Zimmer zurückkehrte.
Jerrik ging ganz in der Arbeit an seinen Papieren auf. Sie beobachtete, wie seine Feder sich langsam bis zum unteren Rand der Seite vorarbeitete. Am Ende angekommen, stieß er einen Laut der Befriedigung aus und überreichte ihr das Blatt.
»Als Schützling des Hohen Lords wirst du eine Vorzugsbehandlung genießen, aber man wird von dir auch erwarten, dass du beweist, dass er eine gute Wahl getroffen hat. Zögere nicht, dir die Vorteile deiner neuen Position zunutze zu machen - du wirst es tun müssen, wenn du seinen Erwartungen gerecht werden willst.«
Sie nickte. »Vielen Dank, Rektor.«
»Du darfst dich jetzt zurückziehen.«
Sonea schluckte, dann stand sie auf, verneigte sich und ging zur Tür.
»Sonea.«
Als sie sich noch einmal umdrehte, umspielte ein seltenes Lächeln Jerriks Mundwinkel. »Ich weiß, dass du Rothen als deinen Mentor vermissen wirst«, sagte er. »Akkarin mag nicht so gesellig sein wie Rothen, aber indem er dich ausgewählt hat, trägt er sehr dazu bei, deine Situation hier zu verbessern.« Das Lächeln verschwand. »Du darfst jetzt gehen.«
Sie zwang sich zu nicken. Als sie die Tür hinter sich zuzog, sah sie, dass Jerrik sie mit nachdenklicher Miene beobachtete. Schließlich wandte sie sich um, ließ den Stundenplan in ihren Koffer gleiten und machte sich auf den Weg durch den breiten, vertrauten Flur.
In den Türen standen einige Novizen, die ihr nachsahen. Verwirrt beschleunigte sie ihre Schritte. Wie viele von ihnen wissen wohl schon Bescheid?, überlegte sie. Wahrscheinlich alle. Sie hatten immerhin einen ganzen Tag Zeit, es herauszufinden. Die Nachricht, dass der Hohe Lord endlich einen Schützling ausgewählt hatte, hatte sich in der Gilde gewiss schneller verbreitet als der Winterhusten. Ein Lehrer kam aus einem der Nebenflure. Er sah sie zweifelnd an und warf einen schnellen Blick auf ihren Ärmel. Dann zog er die Augenbrauen hoch und schüttelte kaum merklich den Kopf, als könne er nicht glauben, was er da sah.
Auch Sonea betrachtete einmal mehr das kleine goldfarbene Quadrat auf dem Ärmel ihrer Robe. Incals waren Familiensymbole, die die Mitglieder der Häuser trugen. Magier dagegen trugen sie nicht mehr, denn mit ihrem Eintritt in die Gilde sollten sie alle familiären und politischen Bande hinter sich lassen. Der Diener, der ihr die neuen Roben gebracht hatte, hatte ihr erklärt, dass der Hohe Lord zum Zeichen seiner Stellung und seiner lebenslangen Bindung das Symbol der Gilde als Incal trage. Die Gilde war seine Familie und sein Haus.
Und sie war seine Novizin. Sie drückte den Arm an den Körper, um das Incal zu verbergen, bevor sie auf die Tür ihres Klassenzimmers zuging. Kurz davor blieb sie noch einmal stehen, um Mut zu sammeln.
»Guten Morgen, Sonea.«
Lord Elben kam mit langen Schritten durch den Flur auf sie zu. Sein Mund lächelte, aber der Ausdruck seiner Augen blieb kalt. »Ich gratuliere dir zu deinem neuen Mentor«, sagte er, als er sie erreicht hatte.
Sonea verneigte sich. »Vielen Dank, Lord Elben.«
Er trat in den Klassenraum. Sonea atmete tief durch und folgte ihm.
»Nehmt bitte eure Plätze ein«, rief Elben. »Wir haben heute viel zu tun.«
»Ah!« Eine vertraute Stimme erhob sich über das Kratzen von Stuhlbeinen auf dem Boden. »Der Schützling des Hohen Lords lässt sich herab, unsere bescheidene Klasse mit seiner Anwesenheit zu ehren.«
Stille kehrte ein. Alle Gesichter wandten sich zu Sonea um. Die Ungläubigkeit in den Zügen der jungen Leute war beinahe komisch. Was für eine Ironie, dass ihre eigenen Klassenkameraden die letzten waren, die es erfuhren. Mit einer Ausnahme. Regin hockte lässig auf einem Tisch und grinste, hochzufrieden mit der Wirkung, die seine Neuigkeit auf die Klasse gehabt hatte.
»Wenn du dich jetzt bitte hinsetzen würdest, Regin«, knurrte Elben.
Regin glitt vom Tisch und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Sonea ging zu ihrem Platz hinüber und stellte ihren Bücherkoffer auf das Pult. Bei dieser Bewegung fiel ihr der Ärmel über das Handgelenk, und sie hörte ein leises Keuchen in ihrer Nähe. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Narron das Incal anstarrte.
»Sonea«, sagte Elben. »Ich habe dir einen Platz in der ersten Reihe reserviert.«